E-Pianos »hören«

Samples aus der Konserve

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Die Tasten schwarz-weiß, dahinter liegen oft genug »Graustufen«: Beim geschlossenen System eines E-Pianos waren seit jeher größere Speicherkompromisse nötig als bei Computern mit virtuellen Instrumenten; nicht selten bleibt für Piano-Sounds nur ein überschaubarer Megabyte-Bereich übrig. (Bild: Dirk Heilmann)

In der Ausgabe 02/2019 haben wir die Entstehung »virtueller« Klänge beleuchtet, samt unterschiedlicher Ansätze und der Grenzen zwischen Original und Emulation. Neben den schier endlosen »Daten-Weiten« großer Libraries existiert in einer Parallelwelt noch ein anderes Nadelöhr: Herkömmliche E-Pianos und Keyboards mit integrierten Klangerzeugern, deren Speicher sich oft genug im unteren Megabyte-Bereich bewegt, mit reichlich Kompromissen. Wie lässt sich die »Sampling-Bandbreite« dieser geschlossenen Systeme testen und beurteilen? Ein Blick auf die Grundlagen.

Im Gegensatz zu Computerlösungen mit entsprechender Sampler-Software sind Keyboards und E-Pianos häufig wesentlich anders aufgebaut: Als geschlossenes System sind interne Speicherchips deutlich teurer als übliche Hardware eines Computers. Klanglich bedeutet das einen Kompromiss − so sind Sample-basierte Digital-Pianos teilweise noch mit lediglich 128 MB ausgestattet.

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Welche Sounds wie gut zur Geltung kommen, hängt vor allem von der effizienten und »musikalischen« Programmierung der Samples ab, die oft geloopt werden, um auf die Aufnahme eines langen Ausklangs verzichten zu können − ein akustisches Piano klingt im Bass mitunter gut eine Minute lang aus. Das veranschlagt als Stereo-Aufnahme bereits rund 10 MB (bei einer Auflösung von 44,1 kHz/16 Bit).

Bei einem Digital-Piano besteht der Einzelklang aus einer gekürzten Version, meist nur aus dem Anschlag und einem kurzen Teil der Ausklangphase, der geräteintern wiederholt und dabei langsam ausgeblendet wird, um den natürlichen Klangverlauf zu imitieren. So wird der Speicher optimal genutzt − andernfalls bräuchten schon eine Handvoll Stereo-Piano-Samples den gesamten Speicherplatz, der für eine Vielzahl an Klängen zur Verfügung steht. Gerade dieser Kompromiss zwischen Klang und Speicherplatz führt zu Unterschieden in der Soundqualität zwischen einzelnen Modellen.

Loops hören

Besonders akustische Instrumente zeichnen sich durch Unregelmäßigkeiten im Klangverlauf aus, was das Ohr als »Lebendigkeit« erkennt. Es fällt unterbewusst schnell auf, wenn sich der Sound wiederholt, was einen künstlichen Eindruck hinterlässt. Klingt der Ton allzu »glatt« aus? Passt die Hüllkurve, die den Klang in die Stille überführt, zu meiner Vorstellung als Spieler, wie ein echtes Piano ausklingt? Beim Klang in den Bassoktaven: »Röhren« die Einzelnoten mit harmonischen Schwingungen, Grund- und Obertönen, wie es die unterschiedlich stark umsponnenen Basssaiten eines Grand Pianos tun? Entsteht der Eindruck harmonisch lebendiger Schwingungen beim Spielen eines Akkords, oder bleibt der Ausklang allzu drahtig?

Sounddesigner Stephan Lembke

Viel hilft viel

In den digitalen Anfangstagen wurde gestreckt und gedehnt, was die Transponierung hergab. Oft mussten Sound-Sets nur mit einem Sample pro Oktave auskommen, der dazwischen liegende Bereich wurde interpoliert. Klar, dass hier keine wirklich natürlichen Ergebnisse zu erwarten waren, da sich neben der Veränderung des Timbres auch die Schwingungsdauer sowie das Ein- und Ausschwingverhalten der unterschiedlichen Töne anders verhalten. Je mehr Samples pro Instrument zur Verfügung stehen, umso authentischer ist der schlussendliche Eindruck; ein Klavierton entwickelt bei jeder Note ein anderes Obertonverhalten. Bei einer digitalen Transponierung bleibt das Obertonverhalten gleich − nur um den jeweiligen Wert verschoben.

Weniger auffällig ist die Transponierung, wenn sie in kleinen Schritten erfolgt, bei einem Sample pro Terz − hier entspricht zumindest die Schwingungsdauer noch grob dem Originalinstrument, außerdem fallen keine großen Sprünge im Timbre der einzelnen Töne auf. Generell dürfte der Hersteller den »Prestige-Sounds« eines Digital-Pianos − den Pianoklängen − Vorrang einräumen, hier darf man mehr klangliche Vielfalt erwarten als bei den »Dreingaben«. Das  klangliche Ergebnis erscheint umso »echter«, wenn sich ein Akkord auch wirklich aus unterschiedlichen Samples zusammensetzt statt aus gleichen, transponierten Originalsamples.

Die gesampelte Dynamik der einzelnen Töne ist zusätzlich zur »Abdeckung« der Noten mit vielen Einzelsamples (»Multisampling«) wichtig. Meist werden aufgrund des knappen Speicherplatzes wenige Dynamikstufen verwendet − das Gesamtpaket muss dem Spannungsfeld aus Multisampling, Loop-Länge und Dynamikstufen Rechnung tragen. Beim Testen gilt, die Tasten von leise bis laut durchzuspielen; nehme ich abrupte Übergänge wahr oder werden diese geschickt überblendet? Ändert sich das Timbre und das Obertonverhalten lauter Anschläge? Diese klingen beim Original in der Regel »strahlender«, während leise gespielte Töne wärmer erscheinen.

Effekte ausschalten

Vorab eingestellte Presets sind oftmals so ausgelegt, gleich beim ersten Hören zu begeistern. Beim zweiten Hören kann sich das schnell relativieren, wenn voreingestellte Effektschleier gelüftet und die Klänge »trocken« hörbar werden − ähnlich wie bei Sample-Libraries. Wie klingen die Sounds in ihrer Substanz, wie dynamisch erscheint das Spielgefühl? Wie klingt der Klang im Kontext oder in einer Bühnensituation? Zur nachträglichen Kontrolle helfen nicht nur die Einschätzungen der Mitmusiker, sondern auch Audioaufnahmen. Zudem kann es helfen, jemand anderen das Instrument spielen zu hören − dadurch wird der Klang anders wahrgenommen, als wenn man selbst mit dem Spielen beschäftigt ist.

Gehören Geräusche dazu?

Zum richtigen Spielgefühl gehören bei manchen Instrumenten auch Nebengeräusche dazu − so sind gerade bei Piano-, Clavinet-, Cembalo- und Rhodes-Sounds die Release-Geräusche der Tasten wichtig, um den Eindruck des Instruments zu vervollständigen. Sind diese enthalten? Sind sie »laut« genug?

»Generationswechsel« beim Digitalpiano. Im »herkömmlichen« Sample-basierten Digitalpiano-Bereich steht ein Generationswechsel in Sachen Performance bevor: C. Bechstein bietet selbst zwar keine reinen E-Pianos an, verknüpft seit 2012 mit seiner »Vario«-Technologie die Möglichkeit, hauseigene akustische Pianos stummzuschalten und stattdessen digitale Klänge abzurufen. Dadurch können Pianisten mit Kopfhörer praktisch geräuschlos üben. Das System reduziert haptische Regler und Taster auf das Nötigste, stattdessen können tiefgehende Eingriffe etwa in die Spieldynamik bei Bedarf per App vorgenommen werden.

In der kommenden »Vario«-Generation, die im Herbst verfügbar sein soll, wird eine angepasste Version des 25 GB großen »Digital Grand«-Sample-Sets enthalten sein. Die Speicherkapazitäten des geschlossenen Systems − früher auf rund 64 MB begrenzt − liegt dann ebenfalls im Gigabyte-Bereich, erklärt Oliver Hutz von C. Bechstein Digital. Dadurch ist auch in diesem Kontext chromatisches Sampling mit einigen Velocity-Layern möglich. Zur effizienten Nutzung des Speicherplatzes kommen zwar immer noch Loops zum Einsatz, allerdings erst im späteren Ausklangverlauf der Noten, dazu in großzügig gestalteten Loop-Längen, um erkennbare Wiederholungen der Obertonstruktur zu vermeiden, so Hutz.

Die neue »Vario«-Generation bei C. Bechstein, die noch im Herbst erscheinen soll: Damit können hauseigene Akustikpianos stummgeschaltet und mit digitaler Klangerzeugung (auf rund 64 MB begrenzt) etwa über Kopfhörer gespielt werden. Diese Generation soll eine angepasste, reduzierte Version der »Digital Grand«-Sample-Library enthalten.

Physical Modelling

Und abseits der Sampling-Technologie? Einen Sonderfall stellt die Physical-Modelling-Technologie dar, die in der letzten Ausgabe mit allen Vor- und Nachteilen diskutiert wurde. Hier wird das akustische Vorbild über festgelegte Parameter mathematisch errechnet. Im Digitalpiano-Bereich brachte Roland 2009 erstmals sein V-Piano auf den Markt, das statt Piano-Samples auf die physikalische Emulation setzt. Auf der Bühne wolle man einen Piano-Sound »nicht zu breit oder zu dick« klingend, erzählt Mark-Knopfler-Pianist Jim Cox im Gespräch (siehe KEYBOARDS Live-Story; www.keyboards.de/stories/guy-fletcher-und-jim-cox-bei-mark-knopfler), der als Kompromiss bei Knopfler live das V-Piano einsetzt. Ist ein Piano-Sound zu breit, sei es viel Arbeit, ihn passend für einen Mix »einzudampfen«. Es gehe um Durchsetzungsfähigkeit im Bandgefüge und über PA-Verstärkung in den selten optimalen Konzerthallen, ergänzt sein Knopfler-Keyboarder-Kollege Guy Fletcher. »Das V-Piano klingt in großen Hallen besser als ein komplexeres, gesampeltes Piano.«

Zukunftsaussichten?

Stephan Lembke, Sounddesigner und Produzent von Piano-Sample-Libraries, der unter anderem an den Native Instruments-Produkten »Definitive Piano Collection« sowie »Una Corda« und »Noir« gearbeitet hat, sieht Potenzial für eine Kombination der Konzepte: »Das wäre beispielsweise im Bereich der Resonanz bei getretenem Haltepedal oder beim Mitschwingen anderer Saiten interessant. Die komplexen Verläufe könnten vermutlich auf Basis einer Programmierung durch Synthese deutlich detaillierter werden. Gleichzeitig ließe sich der Charakter des Instruments durch die Sample-Aufnahme beibehalten. In der Hardware-Welt findet ähnliches teilweise bereits Anwendung, um Speicherplatz zu sparen. Aus meiner Sicht ist es allerdings noch ein weiter Weg, bis das Konzept authentisch klingend funktionieren wird.«

www.bechstein-digital.com/de

www.roland.com/de

www.bechstein.com

Nicolay Ketterer betreibt seit 2003 die Sampling-Firma realsamples und hat über die Jahre mehrere Flügel gesampelt und eigene Sample-Libraries erstellt. Dazu zählen historische Pianos und Cembali aus der Sammlung Andreas Beurmann sowie Instrumente aus dem Brüsseler Musikinstrumentenmuseum (MIM) und dem Germanischen Nationalmuseum.

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