Zwischen Spontaneität & Inspiration

Im Gespräch mit Martin Sasse

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Wie fühlt es sich an, im Rahmen eines Projektes von Sting auf der Bühne zu stehen? Oder wie ist es, wenn das Telefon klingelt und ein langjähriger Weggefährte von Herbie Hancock fragt, ob man in seiner Band für eine Tournee einspringen könne?

Welche Erfahrungen nimmt man mit aus der Zusammenarbeit mit legendären Jazzmusikern wie Charlie Mariano? Und wie schafft man es, basierend auf der Tradition des swingenden, afro – amerikanischen Jazz eine absolut eigenständige und natürliche musikalische Sprache zu entwickeln?

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Martin Sasse am Klavier

Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Mehrzahl der Pianisten und Keyboarder rund um den Globus diese Fragen allenfalls teilweise beantworten kann oder sie ins Reich der „kühnsten Träume“ verbannen muss. Vergessen wir also den Globus, geben wir bei „Google Earth“ die Begriffe „Westfalen“, „Ruhrpott“ und „Rheinische Metropole des Frohsinns“ ein, zoomen wir uns näher ran, und siehe da: Es findet sich tatsächlich jemand, der bei dem Fragenkatalog nicht etwa in Verlegenheit gerät, sondern alles aus erster Hand beantworten kann. Er heißt Martin Sasse.

Geboren in Hamm, erhielt Martin Sasse seine musikalische Ausbildung zunächst in Dortmund, bevor er an den Musikhochschulen in Essen und später in Köln, wo er heute auch lebt, studierte. Seit etwa 20 Jahren ist er einer der gefragtesten Jazzpianisten Deutschlands. Die illustre Liste der Musiker, mit denen er seitdem zusammengearbeitet hat, ist zu lang, um hier auch nur annähernd wiedergegeben zu werden, erwähnt seien aber zumindest ein paar Namen: Weltstars wie Bobby McFerrin, Toots Thielemanns und Lee Konitz, die Miles-Davis-Weggefährten Jimmy Cobb, Steve Grossman und Hiram Bullock, Ex-Chick-Corea-Schlagzeuger Tom Brechtlein und Drummer-Legende Billy Cobham. Martins CDs bekommen seit Jahren überall auf der Welt beste Kritiken und sind in amerikanischen und japanischen Radio-Playlists regelmäßig ganz oben vertreten. Für seine Produktion Good Times (2010) erhielt er den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“. Zurzeit arbeitet Martin Sasse an der Veröffentlichung einer CD mit Eigenkompositionen für das Label Nagel-Heyer.

Die Jazz-Zeitung schreibt, dass dein Spiel bestimmt wird von Groove, Swing, Energie, Virtuosität, Einfallsreichtum, hoher Improvisationskunst und einer sagenhaften Spielfreude, die vor allem bei deinen Live-Auftritten zum unverwechselbaren Kennzeichen wird. Wo siehst du selbst die musikalischen Wurzeln dieser Spielweise?

Ich selbst sehe mich als zeitgenössischer Pianist in der Tradition des swingenden, afro – amerikanischen Jazz. Wenn ich meine musikalische Entwicklung Revue passieren lasse, fällt mir als erster wichtiger Einfluss Erroll Garner ein, danach die Pianisten Bill Evans und Wynton Kelly, weiter ging es mit den bedeutenden Vertretern des Bebop wie Charlie Parker, Bud Powell oder Thelonious Monk. Während meiner Studienzeit war ich begeisterter Fan von Red Garland und Oscar Peterson, später von Herbie Hancock, und in den letzten Jahren ist McCoy Tyner als ganz wichtiger Einfluss hinzugekommen.

Und wie würdest du dein eigenes Spiel beschreiben?

Wichtig für mich ist, dass es swingt und groovt. Ich will die Stücke innerhalb eines traditionellen Kontextes harmonisch ausreizen. Vor allem aber möchte ich melodisch so interessant spielen, dass ich meine Zuhörer fesseln und mitreißen kann. Insofern würde ich mich selbst als Melodiker bezeichnen, wobei ich aber natürlich auch die für den Jazz so typische Interaktion mit dem Schlagzeuger liebe. Eine Herausforderung in der Entwicklung jedes Jazzpianisten ist es, verschiedene musikalische Einflüsse zusammen zu bringen und etwas daraus zu machen, was natürlich, organisch und nicht konstruiert klingt.

Hört man deine Aufnahmen, wird schnell klar, dass dir das unglaublich gut gelingt. Wie bist du dahin gekommen?

Auch bei mir klang manches früher konstruiert und nicht natürlich. Mittlerweile habe ich meine Einflüsse aber so aufgesogen und verinnerlicht, dass das anders geworden ist – als Ergebnis eines Jahre- oder sogar jahrzehntelangen Prozesses, in dem ich sehr viel transkribiert habe, was ich übrigens nach wie vor mache. Auch in Pressekritiken ist zu lesen, dass man in deinem Spiel zwar unterschiedliche Einflüsse hört wie den Blues eines Gene Harris, den Bebop eines Bud Powell oder die pentatonische Sprache eines McCoy Tyner, dass daraus mittlerweile aber etwas sehr Rundes, Eigenständiges gewachsenen ist, das nach „Martin Sasse“ klingt. Weil ich die musikalische Sprache meiner Vorbilder adaptieren und zu etwas Eigenem machen möchte, muss ich sie natürlich zuerst verstehen und lernen. Dabei hilft mir die Transkription ungemein. Erst kürzlich habe ich zum Beispiel eine fantastische Phrase von Herbie Hancock transkribiert, die er in seinem Solo bei dem Stück Little Train auf der George Benson CD White Rabbit spielt.

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Und was genau machst du mit so einer Phrase, damit sie zu einem natürlichen Bestandteil deines eigenen Spiels wird?

Zuerst mache ich mir klar, wo die Phrase harmonisch sitzt. Kann ich sie beispielsweise über eine Tonika spielen oder über eine Sub – dominante, passt sie zu einem halbverminderten Akkord? An welchen Stellen im Takt kann ich die Phrase beginnen, damit es gut klingt? Wie ist ihr intervallischer Aufbau? Ganz wichtig ist, dass ich alle Phrasen, mit denen ich arbeite, singen kann, denn ich möchte melodisch und gesanglich spielen. Ich habe den Anspruch an mich selbst, nur Sachen zu spielen, die ich innerlich höre. Um neues Material zu verinnerlichen, übe ich es außerdem in verschiedenen Tonarten. Und dann probiere ich die Sachen live auf der Bühne aus, wobei sich das nicht wirklich planen lässt – denn ich überlege mir ja nicht im Voraus, dass ich bei Stück XY im dritten Solo- Chorus in Takt 20 die neue Phrase von Herbie Hancock einbauen möchte. Es muss sich auf der Bühne spontan ergeben und natürlich anfühlen. Manchmal tritt das Problem auf, dass ich beim Musikhören neue, interessante Phrasen aufschnappe, aber keine Zeit habe, mich sofort damit zu befassen. Damit ich diese Melodien nicht wieder vergesse, schreibe ich sie auf. Ich habe zu Hause mittlerweile eine Mappe mit einer großen Sammlung an Phrasen. Wenn ich Inspiration brauche, greife ich darauf zurück.

Mal abgesehen von deiner Arbeit mit transkribiertem Material: Du stehst seit Jahren immer wieder mit hochkarätigen, weltweit anerkannten Jazzmusikern auf der Diskographie. Ich vermute, dass diese Erfahrungen auch dein eigenes Spiel beeinflussen. Kannst du darüber etwas sagen?

Ich würde sogar sagen, dass ich mittlerweile viel mehr durch die Musiker, mit denen ich arbeite, beeinflusst werde als durch Aufnahmen. Spontan fallen mir dazu drei Namen ein: Peter Bernstein, Charlie Mariano und Al Foster. Mit dem New Yorker Gitarristen Peter Bernstein hat mein Trio bisher fünf Tourneen gespielt. Von ihm habe ich sehr viel gelernt über Ruhe und Pausen in der Musik. Es ist schon etwas völlig anderes, ob ich CDs von Peter höre oder zusammen mit ihm auf einer Bühne stehe und unmittelbar mitbekomme, dass er an Stellen Pausen lässt, wo ich selbst viele, viele Noten spiele. In solchen Momenten denke ich dann: „Ach ja, so geht’s auch, ist eigentlich noch viel schöner, diese Pausen zu lassen.“ Der Saxofonist Charlie Mariano hat mich vor allem durch seine Energie und seine Spielfreude stark beeinflusst. Trotz seines hohen Alters von über 80 Jahren und seiner schweren Krebs – Erkrankung hatte Charlie eine unfassbare Kraft, einen Sound, eine Energie, eine Seele und eine Liebe, die er in jeden Ton gelegt hat. Das war sehr beeindruckend.

Und dann bekam ich 2008 eine Riesenchance, weil der Pianist im Quartett des Schlagzeugers Al Foster ausgefallen war und die Band einen Ersatz für eine Europatournee suchte. Al ist ein sehr musikalischer Schlagzeuger. Er kommuniziert viel und spielt wirklich mit dem Solisten, anstatt nur den Groove hinzulegen. Die Musiker in dieser Band haben sehr aufeinander reagiert. Darauf zu achten, habe ich bei Al Foster gelernt. Außerdem spielt Al selbst Klavier, er komponiert und hat klare Vorstellungen davon, wie seine Stücke klingen sollen. Er war über viele Jahre immer wieder mit Herbie Hancock auf Tour und sagte zu mir: „Hancock played the chords between the chords, please try to do this.“ Mit anderen Worten: Ich sollte nicht das spielen, was in den Noten steht, sondern Akkorde, die die notierten Changes miteinander verbinden würden.

Wie hast du das umgesetzt?

Ich habe versucht, meine Ohren aufzumachen, zu reagieren und Lücken zu suchen – anstatt einen Akkordteppich auszubreiten, wie das z. B. in einem Hardbop-Kontext üblich wäre.

Ich stelle mir vor, dass ein ziemlicher Leistungsdruck entsteht, wenn der langjährige Drummer von Herbie Hancock dich auffordert, doch bitte so zu spielen wie Herbie. Wie bist du damit umgegangen?

Als Al mich aufforderte, so zu spielen wie der für meine Begriffe weltbeste Jazzpianist, war der Druck so groß, dass er gleichzeitig auch schon wieder unrealistisch wurde. Ich habe das einfach beiseitegeschoben, hab mich entspannt und auf die Konzerte gefreut – denn ich wurde in der Band sehr nett aufgenommen.

Lass uns, was Popularität angeht, vom Weltstar Herbie Hancock noch eine Stufe höher schalten und über deine Zusammen – arbeit mit Sting sprechen. Wie kam es dazu?

2010 war die CD Symphonycities erschienen, für die Sting eine Auswahl seiner Stücke für klassisches Orchester und Band arrangieren ließ. Er ging dann mit dem Projekt für ein Jahr auf Welttournee. Den Großteil der Zeit wurde die Band begleitet von einem britischen Orchester, aber in den letzten drei Monaten der Tour arbeiteten sie mit Orchestern aus den jeweiligen Ländern. Für Deutschland und die Schweiz waren das die Bochumer Symphoniker. Ich hatte ein paar Jahre vorher im Rahmen eines riesigen Chorfestes im Gelsenkirchener Fußballstadion mit den Bochumern zusammengearbeitet, wo wir zusammen mit Bobby McFerrin auftraten. Die Orchesterleitung hatte seitdem meine Telefonnummer, und so bekam ich den Anruf …

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Du warst also eher ein Teil des Orchesters, und nicht der Band?

Bevor die Band in Deutschland eintraf, habe ich mich mit dem Orchester auf die General – Proben vorbereitet. Ab dann war mein Platz aber direkt neben dem Gitarristen Dominic Miller und ich fühlte mich weniger als Orchesterinstrument denn als Pianist, dessen Aufgabe es ist, mit der Band zu grooven. Dabei hatte ich allerdings relativ wenige Freiräume. Vieles war ausnotiert und wegen der Orchesterarrangements enthielten auch die Akkordsymbole klar definierte Optionstöne.

Was nimmst du mit aus der Arbeit mit Sting und seinen Musikern?

Die Genauigkeit und Perfektion, die Sting in jedem Moment anstrebt und von seinen Musikern einfordert, hat mich sehr begeistert und beeinflusst mich bis heute. Außerdem war das nicht nur eine ganz tolle Band, sondern auch die Atmosphäre war immer sehr nett. Vor allem aber hat mich die absolute Professionalität fasziniert, mit der die Band dasselbe Repertoire auch nach 120 Auftritten jeden Abend mit einer Energie und Frische, einer Freude und einer Liebe zur Musik spielte, die einfach irre war.

Hast du die Musiker gefragt, wie sie sich die Inspiration auch nach so vielen Gigs erhalten?

Ja, das hab ich gefragt und darauf die Antwort bekommen, dass sie einfach Spaß haben, und dass sie jeden Abend die Herausforderung, die Musik immer wieder möglichst perfekt zu spielen, gerne annehmen.

 

Diskographie (Auswahl)

Trio:

Martin Sasse Trio Still, Still, Still

(Weihnachts-Songs) – Nagel-Heyer

Records

Martin Sasse Trio European Standard

Time (Interpretationen europäischer

Jazzkompositionen) – Telos Music

Records

Martin Sasse Trio + Peter Bernstein –

A Groovy Affair – Nagel Heyer Records

Martin Sasse Trio + Charlie Mariano

Good Times – Nagel Heyer Records

an der Hammond:

Into The Blue – YVP Records

als Keyboarder:

Rüdiger Baldauf Trumpet Night (DVD)

 


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