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Yamaha VL1 *1994 Physical Modeling Synthesizer

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Yamaha VL1 *1994 Physical Modeling Synthesizer (Bild: Dieter Stork)

Wenn es darum ging, sich neue Syntheseformen zu sichern, war Yamaha immer schon sehr vorausschauend. Nach dem Mega-Erfolg der FM-Synthese in den achtziger Jahren sollte Physical Modelling der nächste Quantensprung in der Synthesizertechnologie werden.

Mit Physical Modeling wurde Mitte der Neunzigerjahre eine neue Lebendigkeit und Wirklichkeitsnähe synthetischer Sounds möglich, neben der die seinerzeit allgegenwärtigen und oft etwas statisch klingenden ROMpler* ziemlich alt aussahen. Eine neue DSP-Chip-Generation war die Basis für die komplexen Rechenoperationen der neuen Syntheseform. Die neue Klangerzeuger-Familie war durch die Buchstaben „VL“ gekennzeichnet und startete mit der großen Eins im Modellnamen. Das erinnert an legendäre Boliden wie den fast mythischen und megateuren FM-Urvater GS1. Der VL1 kam 1994 auf den Markt und kostete ca. 10.000 Mark.

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*ROMpler: Kunstwort aus den Begriffen ROM-Player und Sampler; bezeichnet oft 19″-Expander mit fest in Read-Only-Memory gespeicherten Sample-Sounds.


Studio-Saxofonisten zitterten anfangs ob der Allmacht der neuen Synthesizergeneration und sahen ihre eh schon spärlichen Jobs gänzlich schwinden, setzte dieser neue Yamaha-Synthesizer doch einen deutlichen Schwerpunkt bei den verschiedensten Blasinstrumenten. Begeisterte User dieser Instrumente waren z. B. Howard Jones und Jean Michel Jarre. Ein weiteres Modell mit etwas anderen Algorithmen war der sehr seltene VP1, dessen klangliche Ausrichtung eher in Richtung angeschlagener und gezupfter Saiten geht.

Dem zweistimmigen VL1 folgte der monofone VL7, der etwas günstiger war und an den Erfolg des DX7 anknüpfen sollte. Es gibt auch eine Expanderversion mit dem Namen VL1-m. Aber die Rechnung ging nicht wirklich auf, Yamahas VL-Instrumente der ersten Generation blieben Exoten für einige Eingeweihte mit großer Brieftasche. Dies lag neben dem hohen Preis vor allem am Zeitgeschmack der Dekade, in der Techno, Elektro und andere Spielarten der elektronischen Musik einen ungeahnten Popularitätsschub erlebten und die Renaissance analoger Sounds und der klassischen subtraktiven Synthese ihren Anfang nahm.

Synthesizerbegeisterte waren eher auf künstlich klingende, einfache Analogsounds à la Roland TB-303 scharf als auf komplexe, an physikalischen Modellen von Naturinstrumenten angelehnte Klänge, die ihre Stärken vor allem als Soloinstrumente entfalten können. Yamaha reagierte hier aber recht schnell und bot einen Analog-Editor an, mit dem sich die Physical-Modeling Klangerzeugung auf die Emulation von Analogsynthesizern umstricken ließ.

Flexible Artikulationsmöglichkeiten und ausdrucksstark zu spielende Sounds – bei den neuen Physical-Modeling-Synthesizern Fluch und Segen zugleich. Vor Erscheinen der VL-Synthesizer waren so flexibel zu steuernde Klänge nicht verfügbar. Allerdings stellte man sehr schnell fest, dass gerade deshalb die VL-Instrumente keineswegs leicht zu spielen sind. Denn die Bedienung der Controller muss mühsam erlernt werden, wenn man überzeugende Ergebnisse erzielen will.

Erst spätere VL-Derivate wie der VL70-m, der auch gerne von Wind-Controller-Usern (z. B. WX7) genutzt wird und die PLG150-VL-Karte (für den Motif, den S80, den CS6X und andere Yamaha-Synthesizer) erreichten aufgrund ihres günstigeren Preises höhere Verkaufszahlen.

Äußeres

Die Optik des VL1 vermittelt eine gewisse weihevolle Stimmung. Die goldfarbenen Gehäuseteile und nicht zuletzt das würdige Wurzelholzfurnier-Imitat erinnern etwas an das Cockpit eines klassischen, britischen Luxuswagens. Steht man vor dem imposanten Synth Boliden (91 ¥ 38 ¥ 10 cm, 12,5 kg), wird sofort klar, dass man es hier nicht mit einem Allerwelts-Klangerzeuger für die ganze Familie oder den schnellen Techno-Spaß zu tun hat, sondern mit einem ernsthaften, erwachsenen und hochwertigen Musikinstrument. Auf den ersten Blick fallen natürlich die drei Handräder (1 ¥ Pitch, 2 ¥ Modulation) ins Auge, die zur Steuerung der zahlreichen Realtime-Parameter unverzichtbar sind.

yamaha-vl1
(Bild: Dieter Stork)

Die vieroktavige Tastatur vermittelt ein gutes Spielgefühl. Das große grafikfähige Display (240 ¥ 64 Punkte) mit acht zugeordneten Funktionstastern, die beiden Data-Slider und der Endlosdrehregler stehen zur Bändigung der mehr als 1.000 Parameter zur Verfügung. Für die externe Datenspeicherung gibt es ein Diskettenlaufwerk. Rückseitig findet man neben dem Stereoausgang und dem MIDI-Trio Anschlüsse für zwei Fußschweller, zwei Pedale und einen Breath-Controller (BC 2), der Teil des Lieferumfangs ist.

Klangerzeugung Yamahas Version des Physical Modeling nennt sich S/VA-Synthesis: Self-oscillating Virtual Acoustic. Die Klangerzeugung des VL1 ist duofon, die des VL7 monofon. In der VLSerie wurden vor allem Algorithmen für die Nachbildung von Blas- und Streichinstrumenten implementiert, später spendierte Yamaha auch ein paar Synth-Algorithmen. Die wichtigsten Klangerzeugungsmodule sind der DRIVER und die PIPE.

In der Driver-Sektion wird die Schwingung der Luft, also das Anblasen des Rohrblattes oder der Bogenstrich, modelliert. Mit einer großen Zahl von Parametern lassen sich Dinge wie Beschaffenheit des Blättchens, Growl- oder Tremolo-Effekte oder die Größe des Rachenraums einstellen. Dabei kommen LFOs und unterschiedliche Bandpass/Lowpass und Formantfilter sowie Rauschgeneratoren zum Einsatz. Das Signal wird dann in der Pipe-Sektion weiterverarbeitet; hier kann man vor allem Parameter verändern, die die Resonanz der Luftsäule bzw. der Saite bestimmen. Außerdem lassen sich u. a. Dinge wie die Dämpfung und das Obertonverhalten verändern.

Die Parameter der Drive- und der Pipe-Sektion beeinflussen sich z. T. gegenseitig, was die zielgerichtete Klangprogrammierung nicht gerade vereinfacht. Danach durchläuft der Klang die Harmonic-Enhancer-Sektion, einen FM-Effekt mit Feedback und Filter, bei dem Klangelemente wie etwa das Atemgeräusch im Mundstück, diverse Geräuscharten des Blättchens, aber auch die Summe wahlweise als Träger- oder Modulationsfrequenz agieren können. Hier lassen sich sowohl drastisch geräuschhafte, aber auch subtile Klangvariationen generieren. Weitere Stationen des Klangverlaufs sind der sogenannte Impulse-Expander, der höherfrequente Klanganteile wie z. B. Transienten** beeinflusst, die fünfkanalige Resonatoren-Sektion, die sich z. B. gut zur Erzeugung metallischer Spektren eignet, und eine Filtersektion mit klassischen Filtertypen.


**Transienten: Schneller impulshafter Pegelverlauf in Einschwing- bzw. Attack-Phasen von Audiosignalen. Das Problem samplebasierter Klangerzeugungen der 90er-Jahre (ROMpler) ist das statische Klangverhalten aufgrund gesampelter Attack-Phasen.


Außerdem steht noch ein parametrischer 5- Band-Equalizer und eine Effektabteilung mit konventionellen, gut klingenden Effekten zur Verfügung. Die großen VL-Synthesizer sind wahre Parametermonster, was z. T. auch daran liegt, dass die Tastaturverteilung sehr vieler Parameter mit Keyscaling bestimmt werden kann. Beim ultrararen und sehr teuren VP1 kommen andere Klangerzeugungsalgorithmen zum Einsatz. Das äußerlich identisch designte Gerät ist auf die Nachbildung polyfoner Saiteninstrumente ausgelegt, es kann aber auch Marimba- oder Koto-Artiges oder synthesizer- ähnliche Klänge generieren. Sein Syntheseverfahren wurde von Yamaha als „Free Oscillation Virtual Acoustics“ bezeichnet und beruht zum Teil auf der Karplus Strong-Synthese***.


*** Karplus Strong-Synthese: Digitales Syntheseverfahren zur Erzeugung von saitenähnlichen Klängen. Karplus Strong-Synthese basiert auf Delays, deren Verzögerungszeit so kurz ist, dass sie eigene Frequenzen erzeugen. Die Intensität des Feedbacks bestimmt dabei die Ausklingzeit eines Tones.


Klang

Die VL-Geräte nehmen im Synthesizer-Universum eine Sonderstellung ein. Mit ihnen lassen sich wie mit keinem anderen Synth äußerst lebendige und organische Sounds generieren, die manchmal wie akustische (Blas-) Instrumente eines Paralleluniversums anmuten. Gefragt ist dabei engagierter Einsatz der drei Handräder und der Pedale. Um Sounds wirklich überzeugend zu gestalten, bedarf es auch einer gewissen Lernphase bzw. Einarbeitungszeit, insbesondere wenn man das natürliche Verhalten real existierender Instrumente imitieren möchte.

Der Grundklang des Instruments ist ein wenig körnig und oft auch etwas resonant. Die erzeugten Sounds klingen in der Regel äußerst organisch und expressiv und man kann mit den Spielhilfen bei entsprechender Programmierung dramatische Morphings generieren. Im Allgemeinen sind die auffälligen VL-Klänge dafür prädestiniert, im Vordergrund zu stehen.

 

Was ist Physical Modeling?

Beim Physical Modeling werden die physikalischen Funktionsweisen eines Instruments mithilfe von mathematischen Algorithmen nachgebildet. Das Instrument wird zuerst analysiert, dann in einzelne Module gegliedert, die rechnerisch virtuell erzeugt werden. Die zentralen Funktionsmodule eines Saxofons bestehen z. B. aus einem Mundstück, in dem die Luft durch das Anblasen des Holzblättchens in Schwingung versetzt wird, einem Resonanzrohr (das durch Klappen beeinflusst werden kann) und einem Trichter. Da man freien Zugriff auf die Parameter der einzelnen Klangerzeugungsgruppen hat, lassen sich auch hybride Fantasie-Instrumente wie etwa ein Saxofon mit dem Resonanzrohr und dem Trichter einer Tuba oder dem Resonanzkörper eines Cellos erstellen. Der größte Vorteil der Syntheseform liegt darin, dass man ziemlich „realistische“ Klänge erzeugen und den Klangverlauf mittels Realtime-Zugriff auf Kernparameter sehr lebendig gestalten kann. Grundlagenforschen zum Physical Modeling betrieb u. a. Julius O. Smith von der Stanford University.

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