Sampling als Protest – Der radikale Sound von Matthew Herbert
Für die PR-Abteilungen globaler Konzerne wie Starbucks, McDonald’s oder Kellogg’s waren die Live-Performances von Matthew Herbert Mitte der 2000er ein echter Albtraum. Anstatt Kaffee zu trinken, zerdrückte der britische Künstler Starbucks-Becher, zerstörte Burgerverpackungen oder ließ Cornflakes rascheln – nicht aus Protest allein, sondern um einzigartige Ad-hoc-Samples zu erzeugen.
Diese wurden geloopt, verfremdet und als Grundlage für kapitalismuskritische Musique Concrète verwendet – zu hören etwa auf dem gefeierten Album „Plat Du Jour“. Dabei nahm Herbert auch Geräusche aus der Massentierhaltung auf und verarbeitete sie zu politischen Klangcollagen.
Unter Pseudonymen wie Radioboy, Wishmountain oder Doctor Rockit blieb Herbert seiner Vision treu: Sampling sollte kreativ und originell sein. Sein Manifest forderte den Verzicht auf vorgefertigte Samples und verbot sogar deren Wiederverwendung innerhalb eines Tracks.
Ein zentraler Bestandteil seiner Arbeitsweise war der legendäre AKAI S612, von dem Herbert gleich zehn Exemplare besitzt.
Der Einstieg von Akai in die Sampling-Welt
Der AKAI S612 erschien 1985 und war Akais erstes Sampler-Modell. Mit einem Preis von rund 2.600 DM war er deutlich günstiger als Luxus-Systeme wie das Fairlight CMI und damit für ein breiteres Musikerpublikum zugänglich. Produziert wurde das Gerät bis 1987, insgesamt verkaufte Akai rund 12.000 Einheiten weltweit.
Entwickelt wurde der S612 von David Cockerell, der zuvor für EMS (u.a. VCS 3 Synthesizer) und Electro-Harmonix arbeitete. Seine Erfahrungen im Bereich digitaler Delays mit Sample-Funktionen flossen direkt in das Konzept des S612 ein. Der Name steht für 6-stimmige Polyphonie und 12-Bit-Auflösung.
Auch namhafte Künstler wie Future Sound Of London oder Tangerine Dream nutzten den S612 in ihren Produktionen.
Äußeres & Bedienung – Minimalismus mit Kultfaktor
Der AKAI S612 kommt im schlichten, schwarzen 19-Zoll-Rackgehäuse mit zwei Höheneinheiten daher. Seine Frontplatte ist schnörkellos und funktional gestaltet: Neun Potis und eine Reihe farbenfroher Folientasten ermöglichen schnellen Zugriff auf Lautstärke, Monitoring, Eingangslevel, Tuning sowie die wichtigsten Funktionen für Filter und LFO-Bearbeitung.
Besonders markant sind zwei unscheinbare, horizontal angebrachte Fader, die wesentlich zum Kultstatus des Geräts beigetragen haben. Mit ihnen lässt sich in Echtzeit der Start- und Endpunkt eines Samples sowie des Loop-Bereichs festlegen – ein Feature, das kreative Klangbearbeitung förmlich herausfordert. Befindet sich der Endpunkt-Fader vor dem Startpunkt, wird das Sample sogar rückwärts abgespielt – ein Trick, der live wie im Studio verblüffende Resultate liefert.
Auf der Vorderseite stehen zudem Line- und Mikrofoneingänge, ein Triggereingang für das manuelle oder automatische Starten des Samplevorgangs sowie ein einfacher Line-Ausgang zur Verfügung. Eine einstellige LED-Anzeige und ein siebenstufiges Pegel-LED-Meter helfen bei der Kontrolle. Die Rückseite bietet die klassische MIDI-Trio-Schnittstelle, einen zusätzlichen Line-Out und eine Multipin-Buchse zum separaten Abgreifen der sechs Stimmen. Zudem befindet sich dort der Anschluss für das externe Diskettenlaufwerk MD 280 sowie die 8-Volt-Stromversorgung.
Das zugehörige Quickdisk-Laufwerk wird in einem separaten 2HE-Rack untergebracht. Es speichert je ein Sample pro Disk-Seite mit jeweils 128 kB. Wegen des seltenen Formats (2,8-Zoll Quickdisks) ist der Betrieb heute etwas umständlich – leere Disks sind kaum noch erhältlich, vereinzelt jedoch beim niederländischen Anbieter Vintageplanet.

Klangerzeugung des AKAI S612 – Lo-Fi mit Charakter
Die Klangerzeugung des S612 basiert auf einer 12-Bit-Samplingengine, deren Samplerate sich zwischen 4 und 32 kHz variieren lässt. In der höchsten Qualität lassen sich rund eine Sekunde, in der niedrigsten etwa acht Sekunden aufnehmen – ausschließlich in Mono. Die Samplingfrequenz ist dabei an die Tastatur gekoppelt: Je nach angeschlagener MIDI-Note wird die Abtastrate automatisch gewählt. Der Samplevorgang selbst kann durch Knopfdruck, einen Fußschalter oder per Pegel-Triggerung ausgelöst werden.
Besonders hervorzuheben ist die Möglichkeit, einem bestehenden Sample Overdubs hinzuzufügen. Zudem können Samples nicht nur geloopt oder vorwärts abgespielt werden – auch alternierendes Playback (vorwärts/rückwärts im Loop) ist möglich. Loopstart und -endpunkt lassen sich wahlweise manuell per Fader oder automatisch setzen. Der Klang kann mit einem analogen Tiefpassfilter (mit regelbarem Cutoff, jedoch ohne Resonanz) sowie einer Decay-Hüllkurve im VCA-Bereich weitergeformt werden. Ein LFO mit Sinuswellenform inklusive Delayzeit sorgt für zusätzliche Modulationen. Der S612 arbeitet standardmäßig sechsstimmig polyfon, lässt sich aber auf Wunsch in den Monomodus versetzen – dabei werden alle Stimmen übereinandergelegt, was besonders fette Unisono-Sounds ermöglicht.
Betriebssystem & Editor – Alte Technik mit neuem Leben
Das Betriebssystem des AKAI S612 ist auf einem EPROM-Chip gespeichert und bietet in seiner Grundversion einen stabilen, aber stark limitierten Funktionsumfang. Wer mehr aus dem Sampler herausholen möchte, kann auf ein sogenanntes Homebrew-OS zurückgreifen: Das alternative Betriebssystem mit der Bezeichnung OS 1.3e, entwickelt von Werner Szugat, erweitert die Möglichkeiten des Geräts deutlich. Es ergänzt unter anderem einen sechsstimmigen MIDI-Mono-Modus, eine verbesserte Autoloop-Funktion und neue Parameter zur Klangmanipulation. Darüber hinaus lässt sich der S612 mit dem Update als zweistimmiger Pitch-Transposer oder sogar als fünffach gestaffeltes Multitap-Delay einsetzen.
Für die Verwaltung von Samples am Computer empfiehlt sich der MIDI-Sample-Dump-Editor von Harald Plontke, der eine einfachere Bearbeitung und Übertragung der Daten ermöglicht. Das OS-Update selbst war früher über Vintageplanet.nl erhältlich; eine Anleitung inklusive Image-Dateien findet sich heute noch auf fa.utfs.org.

Klangbild – Lo-Fi, aber musikalisch
Der Klangcharakter des S612 ist eindeutig dem Lo-Fi-Bereich zuzuordnen. Aufgrund der niedrigen Auflösung und der eingeschränkten Samplingzeit liefert das Gerät einen rauen, leicht körnigen Sound, der sich jedoch überraschend gut in komplexe Produktionen integrieren lässt – oft sogar ohne zusätzliche EQ-Korrekturen. Besonders hervorzuheben ist das warme, analoge Tiefpassfilter, das trotz des fehlenden Resonanzreglers ein sahniges und musikalisches Klangverhalten an den Tag legt.
Die beiden Fader für Loop-Start- und Endpunkt ermöglichen ein äußerst intuitives Sounddesign. Innerhalb weniger Sekunden lassen sich daraus ungewöhnliche Grooves, zerstückelte Texturen und rhythmisch interessante „Stotterloops“ erzeugen. In manchen Fällen entstehen beim Resampling hochfrequente Artefakte, die sich kreativ nutzen lassen – etwa als perkussive oder glitchartige Akzente. Der S612 lädt geradezu dazu ein, nicht einfach nur zu sampeln, sondern mit Klängen aktiv zu performen.
Die Speicherung auf Quickdisk hingegen wirkt heute wie ein Relikt aus einer anderen Ära. Die 2,8-Zoll-Medien sind nicht nur schwer zu beschaffen, sondern auch mit ihren 128 kB pro Seite äußerst begrenzt. In der Praxis empfiehlt es sich daher, den Sampler eher als temporäres Performance-Instrument zu nutzen und die Ergebnisse direkt in eine DAW oder ein Audiointerface zu überführen.

Fazit – AKAI S612 – Werkzeug für kreative Köpfe mit Pioniergeist
Der AKAI S612 ist kein Sampler für hohe Studioeffizienz oder komfortable Soundverwaltung – vielmehr ist er ein Instrument für klangliches Neuland, für Spontaneität, für Performance. Wer Spaß daran hat, mit minimalistischen Mitteln große Ideen umzusetzen, wird in diesem Gerät eine echte Inspirationsquelle finden. Gerade in Live-Situationen oder bei experimenteller Musikproduktion eröffnet der S612 Möglichkeiten, die modernen Workstations trotz größerer Leistungsfähigkeit oft fehlen: unmittelbare, haptische Kontrolle und das bewusste Arbeiten mit Limitationen.
Natürlich gibt es heute Alternativen, die mehr Speicher, höhere Auflösung und moderne Speicherlösungen bieten. Geräte wie der Korg Microsampler, die Roland SP-404SX oder der Elektron Digitakt sind technisch überlegen – doch keines von ihnen klingt wie ein S612. Und manchmal ist genau das der Reiz: der ungeschliffene Charakter eines Instruments, das den Benutzer zwingt, Entscheidungen zu treffen – und dafür mit einzigartigem Sound belohnt.
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