Was hat David Bowie mit dem legendären Sleng-Teng-Riddim zu tun? Was ist überhaupt Sleng Teng? Und wie schafft es ein unscheinbares Home-Keyboard aus den frühen 80ern – das Casio MT-40 – zur heimlichen Hauptfigur einer neuen Reggae-Ära zu werden?
Dieser Artikel geht genau diesen Fragen nach und zeigt, wie ein günstiges Einsteiger-Keyboard zur kulturellen Zeitenwende im Reggae und Dancehall beitrug.
Sleng Teng, Bowie und das Casio MT-40
Im Mittelpunkt steht hier weniger ein einzelner Song als vielmehr die kulturelle Evolution von Musikstilen. Ein kleines japanisches Home-Keyboard hinterlässt große Spuren in der Musikgeschichte und wird zum Impulsgeber für eine neue Musikrichtung.
Dabei spielen gleich mehrere Faktoren zusammen:
ein Keyboarder, der sich keinen Yamaha DX7 leisten konnte, eine ungewöhnliche Begleitautomatik, jede Menge Mythen – und einige überraschende Bezüge zur Rockgeschichte. Im Folgenden schlagen wir einen Pfad durchs Mythendickicht und räumen mit ein paar hartnäckigen Fake-Facts auf.
Sleng Teng: Die Bassline, die die (Reggae-)Welt veränderte
1985 begann die Ära des elektronischen Dancehall, der später oft als Raggamuffin oder Ragga bezeichnet wurde. Dieser neue Stil setzte konsequent auf Synthesizer und Drumcomputer und klang dadurch radikal anders als der bis dahin dominierende Live-Roots-Reggae.
Den Startschuss gab der Song „Under Mi Sleng Teng“ des 2014 verstorbenen Jamaikaners Wayne Smith. Der elektronische Groove, also der sogenannte Riddim, klang vollkommen anders als alles, was man zuvor im Reggae gehört hatte.
Mitproduzent King Jammy, auf dessen Label die Single erschien, gewann mit diesem Track 1985 einen legendären Soundclash in Kingston – der Sleng-Teng-Riddim wurde daraufhin nicht nur in Jamaika, sondern weltweit zum Riesenerfolg.
In den folgenden Jahren bildete der stilprägende Sleng-Teng-Riddim die Basis für unzählige Produktionen und taucht auf hunderten Releases auf (unter anderem von Bounty Killer und Anthony B.). Doch die Bassline blieb nicht auf Reggae beschränkt:
Auch Acts wie 50 Cent, Moby (in seinem Remix von Everybody In The Place von The Prodigy), die Miami-Bass-Legende 2 Live Crew (Reggae Joint), SL2 (auf dem Rave-Klassiker In My Brain) oder die britische Sängerin M.I.A. (Pull Up The People vom 2005er Album Arular) griffen auf den markanten Bass-Groove zurück.
Knapp bei Kasse, aber kreativ
Produziert wurde Under Mi Sleng Teng – in dem Wayne Smith übrigens die Auswirkungen von Drogen thematisiert – von King Jammy und Keyboarder Noel Davy.
Davy wollte sich zu dieser Zeit eigentlich den angesagten Yamaha DX7 zulegen. Allerdings war er chronisch klamm, weshalb es nur für das rund 150 US-Dollar teure Casio Home-Keyboard MT-40 reichte.
Statt zu resignieren, nutzte er die Situation als kreative Chance: Das ungewöhnlich klingende „Rock“-Begleit-Preset des Mini-Keyboards diente als Basis für den Song. Auch viele andere Sounds von Under Mi Sleng Teng stammen direkt aus dem MT-40.
Hätte Davy das Budget für einen DX7 gehabt oder hätte eine große Plattenfirma die Produktion finanziert, wäre der Startimpuls für den elektronischen Dancehall-Reggae in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht entstanden. Gerade der synthetische, leicht „billige“ Klang des Casio sorgte dafür, dass der Track in der Reggae-Szene wie ein Fremdkörper – und damit wie eine kleine Revolution – wirkte.
Casio MT-40 und MT-41: Ein unscheinbarer Kult-Klassiker
Das Casio MT-40 ist ein weißes, polyphones Heim-Keyboard, das 1981 erschien. Es verfügt über 37 Minitasten und einen integrierten Lautsprecher. Eine optisch abgewandelte Version mit braunem Gehäuse wurde als MT-41 angeboten.
Die achtstimmige analoge Klangerzeugung basiert auf zwei Rechteckwellen und stellt 22 Preset-Sounds bereit. Diese versuchen, diverse Natursounds nachzubilden – scheitern dabei zwar oft grandios, erzeugen aber genau dadurch einen charmanten, warmen Grundsound, der heute als „lo-fi“ und „vintage“ gefeiert wird.
Zusätzlich sind ein Casio-typischer analoger Drumcomputer und eine Bass-Sektion an Bord, die gemeinsam eine Begleitautomatik mit mehreren Stilrichtungen bereitstellen. Der erstaunlich druckvolle Rechteck-Bass lässt sich über 12 Mikro-Knopftasten spielen, die gleichzeitig zur Transposition der Begleitautomatik dienen.
Wichtige Features des Casio MT-40
- 37 Minitasten mit integriertem Lautsprecher
- 8-stimmige, analoge Rechteckwellen-Klangerzeugung
- 22 Preset-Sounds mit typischem 80er-Jahre-Charme
- Analoger Drumcomputer mit Casio-typischen Patterns
- Bass-Sektion mit kraftvollem Rechteck-Bass
- Begleitautomatik mit mehreren Stilrichtungen
- 12 Mikrotaster zur Bass-Triggerung und Transposition
Vom „Tischhupe“-Ruf zum Circuit-Bending-Star
Wie viele andere Casio-Keyboards hat sich auch das MT-40/MT-41 vom belächelten Wohnzimmer-Instrument zum gefragten Kultgerät entwickelt.
Besonders die Circuit-Bending-Szene hat das Keyboard für sich entdeckt. Sehr liebevoll modifiziert es unter anderem der britische Anbieter Spacecat Audio Technologies, der dem MT-40 zusätzliche klangliche Fähigkeiten spendiert.
Zu den Kunden von Spacecat, die auch andere Casio-Legenden pimpen, gehören unter anderem:
- Mark Mothersbaugh (Devo)
- Liam Howlett (The Prodigy)
- Pascal Gabriel (S’Express)
Fake News rund um Sleng Teng
Rund um Sleng Teng und das legendäre „Rock“-Preset haben sich zahlreiche Mythen gebildet. So findet man im deutschen Wikipedia-Eintrag (Stand zum Zeitpunkt des ursprünglichen Artikels) die Behauptung, Wayne Smiths Song sei eine Coverversion des Rock’n’Roll-Klassikers „Something Else“ (1959) von Eddie Cochran.
Ebenso hält sich das Gerücht, die prägnante Bassline würde auf „Anarchy in the U.K.“ von den Sex Pistols beruhen. Beides ist jedoch schlicht falsch. Diese Geschichten klingen zwar spektakulär, halten einer genaueren Betrachtung aber nicht stand.
Die Mutter des Sleng-Teng-Riddims: Hiroko Okuda
Die Presets des Casio MT-40 stammen von der japanischen Ingenieurin und Casio-Produktentwicklerin Hiroko Okuda, die damit – eher ungewollt – die Reggae-Welt veränderte.
In einem Interview bestätigte sie, dass das Vorbild für das „Rock“-Preset nicht bei den Sex Pistols oder Eddie Cochran zu suchen ist. Stattdessen beruhe es auf einem britischen Rocksong eines bekannten Künstlers aus den 70er-Jahren, den man sofort erkennen würde, wenn man ihn hört. Vermutlich wollte sie aus urheberrechtlichen Gründen keine exakte Quelle nennen.
Vieles deutet auf David Bowies „Hang On to Yourself“ vom Spiders from Mars-Album (1972) hin. Dessen Basslinie erinnert deutlich an den Sleng-Teng-Riddim. Gleichzeitig ist auch dieses Stück eine Referenz an klassische Rock’n’Roll-Tracks; Bowies Ziggy-Stardust-Figur verweist unter anderem auf den Rock’n’Roller Vince Taylor.
So entsteht eine lange Kette von Referenzen, in der sich Rock’n’Roll, Glam Rock, Punk und schließlich elektronischer Dancehall-Reggae gegenseitig beeinflussen.
Referenzkarussell und musikalische Memes
Das kulturelle Innovationspotenzial der Musikgeschichte war oft das Ergebnis von Mangel oder von zweckentfremdeter Technik:
- Bebop-Musiker konnten sich keine Big Bands leisten und entwickelten stattdessen kleinere, virtuosere Formationen.
- Die Roland TB-303 war ursprünglich als Bassbegleiter gedacht, wurde aber im Zuge ihres „Missbrauchs“ zum Grundstein von Acid House.
Ähnlich verhält es sich mit Presets, Loops und Samples, die in einem völlig anderen Kontext eingesetzt werden, als die Hersteller einst vorgesehen hatten. Solche Sounds funktionieren wie musikalische Memes im popkulturellen Universum: Sie sind leicht wiedererkennbar und werden zu stilprägenden Eckpunkten, die immer neue Erneuerungen ermöglichen.
Der Sleng-Teng-Riddim nahm für den elektronischen Dancehall-Reggae eine vergleichbare Rolle ein wie der Amen-Break für Drum’n’Bass – ein Baustein, der unzählige Tracks miteinander verbindet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Hiroko Okuda als Studentin Reggae-Fan war und ihre Doktorarbeit über diese Musikrichtung schrieb. Casio wiederum implementierte das ursprünglich „Rock“ genannte Begleit-Preset später in die digitalen Home-Keyboards SA-46 und SA-76 – dort allerdings unter dem Namen „MT-40 Riddim“.
Fazit: Vom Billig-Keyboard zum Kultinstrument
Das Casio MT-40 ist ein Paradebeispiel dafür, wie günstige Einsteiger-Hardware durch kreative Musiker und Produzenten eine gewaltige kulturelle Wucht entwickeln kann.
Was früher als einfache „Tischhupe“ belächelt wurde, steht heute für einen ganzen Stilwandel im Reggae, ist in Ragga, Dancehall, Hip-Hop und Rave verewigt und hat dank Circuit-Bending-Szene und Vintage-Hype einen festen Platz in Studios und Sammlungen weltweit.
Oder anders gesagt: Ohne das kleine Casio MT-40 sähe die Geschichte des elektronischen Dancehall-Reggae – und damit ein gutes Stück Popgeschichte – vermutlich ganz anders aus.

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