Richtcharakteristiken von Mikrofonen verstehen

Niere, Kugel, Acht und Hyperniere bei Mikrofonen

Kugel, Niere, Acht & Hyperniere – plus Stereomikrofonie in der Praxis

Wer bessere Aufnahmen will, muss die Richtcharakteristik seines Mikrofons verstehen. Sie entscheidet, aus welcher Richtung Schall bevorzugt aufgenommen wird, wie stark Umgebungsgeräusche ins Signal gelangen und wie gut eine Aufnahme am Ende in Mono funktioniert. In diesem Beitrag schauen wir uns die vier wichtigsten Richtcharakteristiken an – Kugel, Niere, Acht und Hyperniere – und setzen sie anschließend konkret in der Stereomikrofonie ein. So kannst du deine Mikrofonierung im Studio wie auf der Bühne gezielt verbessern.

Was bedeutet „Richtcharakteristik“ überhaupt?

Die Richtcharakteristik beschreibt die Empfindlichkeit eines Mikrofons in Abhängigkeit vom Einfallswinkel des Schalls. Man kann sich das als 360-Grad-„Landkarte“ um die Kapsel vorstellen: Bereiche mit hoher Empfindlichkeit sind „hell“, die mit starker Dämpfung „dunkel“. Davon hängen Klang, Räumlichkeit, Übersprechung, Rückkopplungsfestigkeit und der Nahbesprechungseffekt ab. Letzterer – die Bassanhebung bei kurzem Mikrofonabstand – betrifft alle druckgradientenbasierten Charakteristiken (Niere, Super-/Hyperniere, Acht), nicht jedoch die reine Kugel (Druckempfänger).

Kugel (Omnidirektional): Natürlich, offen, raumgreifend

Die Kugel nimmt Schall gleichmäßig aus allen Richtungen auf. Dadurch wirkt sie besonders natürlich und offen, weil keine Richtwirkung Färbungen verursacht. Überdies zeigt die Kugel keinen Nahbesprechungseffekt und bleibt auch außerhalb der Achse vergleichsweise klangtreu.

In der Praxis eignet sich die Kugel hervorragend für Raumaufnahmen, Chöre und klassische Ensembles, wenn du die Akustik bewusst ins Klangbild integrieren möchtest. Im Nahbereich punktet sie mit linearem Bass, allerdings lässt sie eben auch mehr Raumanteil und Übersprechung zu. Auf lauten Bühnen ist sie deshalb selten die erste Wahl, im kontrollierten Studio dagegen oft die schönste.

Niere (Cardioid): Der Allrounder für Studio und Bühne

Die Niere bevorzugt Schall von vorn und dämpft den Rückenbereich deutlich. Dadurch reduziert sie Raumanteil, minimiert Übersprechungen und ist rückkopplungsfester als die Kugel. Gleichzeitig besitzt sie einen Nahbesprechungseffekt, der Stimmen und Instrumenten im Close-Miking angenehme Wärme verleihen kann – bei zu geringem Abstand allerdings auch mulmig wirkt.

Weil die Niere in sehr vielen Situationen ein gutes Verhältnis aus Direktheit und natürlichem Klang bietet, ist sie der Standard für Vocals, Amps, Toms, Overheads oder Akustikgitarre. Achte jedoch auf Off-Axis-Färbungen: Signale von der Seite klingen nicht nur leiser, sondern oft auch etwas verfärbt.

Acht (Figure-8): Zweiseitig sensibel, seitlich taub

Die Acht ist nach vorn und hinten gleich empfindlich, während sie seitlich fast vollständig ausblendet. Diese „Nullen“ bei 90° und 270° sind extrem praktisch: Du kannst Nebenschallquellen präzise in die Taubstellen setzen. Die Acht zeigt den stärksten Nahbesprechungseffekt aller Muster und klingt außerhalb der Achse vergleichsweise sauber, was bei Ambience-Aufnahmen und Bändchenmikros beliebt ist.

Klassische Anwendungen sind Blumlein-Stereoverfahren, Mid/Side-Setups (als Side-Signal) und Duett-Aufnahmen, bei denen zwei Sänger*innen sich gegenüberstehen. Auf der Bühne braucht es allerdings Disziplin beim Monitoring, weil die Rückseite genauso empfindlich ist wie die Front.

Hyperniere (Hypercardioid): Maximale Trennung mit kleinem Haken

Die Hyperniere (und ihre Schwester, die Superniere) bündelt noch stärker nach vorn als die Niere. Dadurch erreicht man sehr gute Isolation bei lauten Umgebungen und eine hohe Rückkopplungsfestigkeit. Der Preis dafür ist eine kleine Empfindlichkeitskeule nach hinten sowie ausgeprägtere Off-Axis-Färbungen. Der Nahbesprechungseffekt ist deutlicher als bei der Niere.

In der Praxis überzeugt die Hyperniere überall dort, wo maximale Trennung wichtig ist: Spot-Miking im Orchestergraben, Toms in der Rock-Drum-Abnahme, Gitarrenboxen auf engen Bühnen oder Sprecheraufnahmen in nicht perfekt gedämmten Räumen.


Stereomikrofonie: Welche Richtcharakteristik passt zu welchem Verfahren?

Sobald es um Stereo geht, zählt nicht nur das einzelne Mikrofon, sondern vor allem Geometrie und Richtcharakteristik im Zusammenspiel. Die gute Nachricht: Mit wenigen etablierten Verfahren deckst du fast alle Situationen ab.

A/B – Spaced Omni für große, natürliche Breite

Beim A/B-Verfahren nutzt du zwei Kugelmikrofone im Abstand von typischerweise 40 bis 60 cm (bei Decca Tree deutlich mehr). Das Ergebnis ist eine weitgeöffnete, natürliche Stereobühne mit reichlich Tiefe und Raum. Weil die Mikrofone nicht kohärent sind, entsteht die Stereoinformation primär über Laufzeitdifferenzen. A/B klingt groß und „teuer“, ist aber phasenempfindlich und in Mono nicht so stabil wie kohärente Verfahren.

Du brauchst: Kugel.

XY – Kohärent, präzise und monokompatibel

XY verwendet zwei Nieren, die sich an einem Punkt kreuzen (kohärent) und typischerweise in einem Winkel von 90° bis 135° zueinander stehen. Die Räumlichkeit entsteht über Intensitätsdifferenzen, wodurch das Bild präzise und die Monokompatibilität sehr gut ist. XY ist die sichere Bank für Live-Mitschnitte, Podcast-Stereosetups und Instrumente mit klarer Ortung.

Du brauchst: Niere (alternativ Super-/Hyperniere für ein engeres Bild).

ORTF – Natürliches Stereo mit definierter Basisbreite

ORTF kombiniert zwei Nieren mit 110° Winkel und 17 cm Abstand. Dadurch mischt es Intensitäts- und Laufzeitdifferenzen und liefert eine realistische Breite, die oft als musikalisch „richtig“ empfunden wird. ORTF passt großartig für Ensembles, Chöre und Akustik-Sets, wenn du etwas mehr Größe als bei XY möchtest, aber die Monokompatibilität nicht opfern willst.

Du brauchst: Niere.

Blumlein – Samtige Räumlichkeit mit zwei Achten

Das Blumlein-Paar besteht aus zwei Achten im 90°-Winkel, die sich kohärent schneiden. Dadurch capturest du Front-, Seiten- und Rückraum sehr elegant. Das Ergebnis wirkt seidig, tief und äußerst realistisch, sofern der Raum gut klingt. In trockenen oder kleinen Räumen kann es dagegen zu viel Ambience sein.

Du brauchst: Acht (idealerweise zwei identische Bändchen oder Multi-Pattern-Kondensatoren).

Mid/Side (M/S) – Flexibel im Mix, stark in Mono

Mid/Side nutzt ein Mittelmikrofon (meist Niere oder Hyperniere) und ein Seitenmikrofon mit Acht-Charakteristik. Die Breite regelst du später per Matrix frei ein – von schmal bis sehr weit – und behältst dabei eine exzellente Monokompatibilität (das Side-Signal löscht sich in Mono). M/S ist ideal, wenn du Flexibilität brauchst oder in wechselnden Umgebungen arbeitest.

Du brauchst: Niere/Hyperniere (Mid) plus Acht (Side).


Praxisleitfaden: So wählst du die passende Richtcharakteristik

Wenn der Raum exzellent klingt und du viel Natürlichkeit willst, greift zur Kugel – solo oder als A/B. Brauchst du Kontrolle, Trennung und verlässliche Monokompatibilität, startest du mit Niere – solo, als XY oder ORTF. Willst du das Ambience-Fenster weiter aufziehen oder gezielt Nebenschallquellen ausblenden, sind Acht und Blumlein oder M/S deine Freunde. In lauten Umgebungen oder bei problematischer Akustik hilft die Hyperniere, weil sie hart bündelt und Rückkopplungen besser im Griff hat; als XY-Variante liefert sie ein engeres, fokussiertes Stereo-Bild.

Achte außerdem auf den Aufnahmeabstand: Mit Nieren, Hypernieren und Achten kannst du über den Nahbesprechungseffekt bewusst Fülle erzeugen, solltest aber Pop-Laute und Dröhnneigung im Blick behalten. Die Mikrofonposition jenseits der Hauptachse beeinflusst den Klang stärker als viele vermuten, denn Off-Axis-Färbungen sind je nach Kapsel deutlich. Kleine Winkeländerungen bewirken oft mehr als ein EQ.


Häufige Fragen kurz beantwortet

Welche Richtcharakteristik ist die beste für Vocals?
Als Startpunkt gilt die Niere wegen guter Isolation und kontrollierbarem Nahbesprechungseffekt. In sehr lauten Umgebungen kann Hyperniere sinnvoll sein; bei intimen, raumgreifenden Aufnahmen kann auch eine Kugel überzeugen – vorausgesetzt, der Raum klingt gut.

Kann ich Stereo auch mit Hypernieren machen?
Ja. XY mit Super-/Hypernieren erzeugt ein engeres, fokussiertes Stereobild sowie hohe Rückkopplungsfestigkeit. In Mono bleibt es stabil, allerdings steigt die Gefahr von Off-Axis-Färbungen.

Warum klingt meine A/B-Aufnahme in Mono dünn?
Weil A/B stark auf Laufzeitdifferenzen setzt, die sich in Mono teilweise auslöschen. Für kompromissloses Mono wähle XY, Blumlein oder M/S.


Richtcharakteristiken bei Mikrofonen – Fazit: Mit Muster und Methode zu besseren Aufnahmen

Die Richtcharakteristik ist kein Nebenschauplatz, sondern die klangentscheidende Stellschraube. Kugel liefert Natürlichkeit und Raum, Niere bietet Kontrolle und Allround-Tauglichkeit, Acht eröffnet elegante Stereotechniken und präzise Ausblendungen, während Hyperniere maximale Trennung ermöglicht. Kombiniert mit den passenden Stereoverfahren – von A/B über XY und ORTF bis Blumlein und Mid/Side – bekommst du genau die Räumlichkeit, Ortung und Monokompatibilität, die deine Produktion braucht. Wenn du diese Grundlagen verinnerlichst, triffst du Mikrofon-Entscheidungen künftig bewusst – und deine Recordings klingen auf Anhieb klarer, breiter und professioneller.

Tipp zum Schluss: Wenn du oft zwischen Solo- und Stereo-Setups wechselst, lohnt ein Multi-Pattern-Mikrofon. Ein Dreh am Schalter – und du hast je nach Situation Kugel, Niere oder Acht parat, ohne das Mikrofon zu wechseln. Das spart Zeit, erweitert deinen Klangwerkzeugkasten und macht dich im Studio wie live spürbar flexibler.

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