Gegen den Strom

Martin Steer aka Bad Stream über sein aktuelles Solodebüt

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(Bild: M. Fuchs, Bünning, J. Koncir)

Martin Steer kennt man als Gitarrist von Frittenbude. Im April hat er sein Solodebüt vorgelegt: Wer da nun auf noch mehr Spaßpunk-Elektro-Hip-Hop tippt, liegt komplett falsch − Bad Stream macht Schluss mit lustig …

»Ich schaue sogar beim Gitarrespielen auf mein Mobiltelefon«, soll Martin Steer einmal bemerkt haben − nicht ohne dabei ein gewisses Entsetzen zu zeigen. Die völlige Vereinnahmung durch den allgegenwärtigen Datenstrom ist dann auch das große Thema von Bad Stream, umgesetzt als One-Man-Projekt mit Gitarre, Elektronik, Drums und Stimme. Elf beeindruckend intensive Songs oszillieren zwischen atmosphärisch vernebelter Industrial-Dystopie und fast hysterisch aufblitzenden Popsound-Fragmenten. Die klanglichen Konturen sind vielgestaltig, bleiben aber ebenso flüchtig wie die Begegnungen und »Freundschaften« im weltweiten Web. Viele Fragen werden gestellt, die Antworten gehen jedoch im omnipräsenten Datenrausch(en) unter.

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Ich treffe Martin Steer in seinem Studio am Rande eines Berliner Industriebezirks.

“Ich liebe Effektgeräte” (Bild: M. Fuchs, Bünning, J. Koncir)

Bei Frittenbude hast du jederzeit direkten Austausch mit deinen Mitmusikern. Wie fühlt sich dagegen die Solo-Arbeit an?

Alleine zu arbeiten ist schon etwas anderes. Da besteht viel eher die Gefahr, sich im Kreis zu drehen und zu verlieren − wie man sich eben auch in der Online-Welt verlieren kann. Es erfordert gerade dann eine gewisse Selbstdisziplin, sein Smartphone auszuschalten und sich ganz auf seine musikalische Arbeit zu fokussieren. Ich glaube, es hat funktioniert.

Die Produktion von Bad Stream hat fünf Jahre benötigt. Wie bleibt man angesichts ständig wech- selnder Einflüsse über so eine lange Zeit am Ball?

Das Album habe ich nie als Momentsache gesehen. Die Zielsetzung für Bad Stream war es, alle wichtigen musikalischen Einflüsse, die mich geprägt haben, auf einem Album zu fokussieren, um einen Rahmen zu schaffen und dabei eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln.

Ein hohes Ziel …

Vermutlich hat das gesamte Projekt deshalb auch fünf Jahre benötigt − es musste langsam reifen. Und es gab zwischendrin auch einige Schaffenspausen.

(Bild: M. Fuchs, Bünning, J. Koncir)

Welche musikalische Sprache hast du für Bad Stream entwickelt?

Ich habe versucht, verschiedene Styles und Sound- Welten miteinander zu verbinden. Sicher unüberhör- bar sind Einflüsse wie Radiohead, IAMX und Nine Inch Nails − hier ganz besonders die des früheren Keyboarders Allessandro Cortini, aber auch Nils Frahm. Wie auch diese Künstler verbinde ich elektronische und live erzeugte Elemente, etwa Drumcomputer und Akustik-Drums, verfremdete Gitarren und Synthesi- zer sowie Vocals und Stimmen-Samples − Letztere

in zehn verschiedenen Sprachen. Die musikalischen Quellen sind, ebenso wie der Datenstrom im Web, vielgestaltig und jederzeit verfügbar, lassen sich jedoch nie wirklich greifen oder gar verifizieren.

Mit sechs bis acht Minuten Laufzeit sind die Stücke erstaunlich lang …

Es heißt ja, dass Konsumenten gar nicht mehr in der Lage seien, Entsprechendes zu erfassen. Ich will die Hörer zwingen, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen und ihr Smartphone für sechs oder acht Minuten zu vergessen.

Korg MS-20 (das Original) und Moog Voyager
sind bei Bad Stream im Einsatz.
(Bild: M. Fuchs, Bünning, J. Koncir)

 

Wie hast du Bad Stream produziert?

Der Großteil der Produktion ist hier in Berlin pas- siert. Eines meiner Lieblingsinstrumente ist Roger Linns Tempest. Damit habe ich zunächst Beats und Sequenzen programmiert und in Logic aufgenommen. Das Gleiche ist mit Gitarren und Synths passiert. Aus den Audioschnipseln sind dann erste Arrangements entstanden.

Fast alle Sounds klingen nach aufwendiger Bearbeitung!

Das ist wahr − ich liebe Effektgeräte! Das Pedal- board mit meinen Gitarreneffekten war ständig im Einsatz. Da gibt es Delays, Pitch-Shifter, Zerhacker und vieles mehr. Teil meines Konzepts ist ja, den Ursprung der Sounds zu verwischen und unterschiedlichste Klänge so zu formen, dass sie wie aus einem Guss wirken. Dafür eignen sich Effekte sehr gut. So ist etwa der auffällige Sound bei Transition ursprünglich ein einfacher, gefreezter Gitarren-Chord, der zunächst mit einer Tape-Maschine auf Halftime aufgenommen wurde und dann mit reichlich Effekthall und einem rhythmischen Slicer samt Delay und Chorus bearbeitet wurde. Auch für Atmos verwende ich solche Gerätekombinationen sehr gerne. Sound-Fragmente, Glitches und Störgeräusche gehören unbedingt zu meiner Klangästhetik − Bad Stream eben!

(Bild: M. Fuchs, Bünning, J. Koncir)

Bearbeitest du Gitarren und Synths ähnlich?

Im Prinzip ja, das Procedere ist sehr ähnlich. Es sind mehr Gitarren als Synthesizer-basierte Sounds auf dem Album zu hören. Synthesizer schicke ich gerne durch die Sherman Filterbank. Aber man muss dieses Teil mit Vorsicht genießen − es kann wirklich sehr extrem klingen. Als Gitarrist bin ich naturgemäß mit Verstärkern ausgestattet und re-ampe aufgenommene Passagen gerne. Überhaupt spiele ich Spuren aus Logic raus, bearbeite sie noch einmal in ihrer Ge- samtheit und nehme sie wieder auf. Der hybride Mix aus analoger und digitaler Soundbearbeitung gefällt mir.

Wie hast du die Akustik-Drums in deinen Sound integriert?

Mit der fertigen Vorproduktion bin ich zu Franz Sonnauer in das Studio namens Raum 20 bei München gegangen. Dort haben wir zunächst die Logic-Arrangements in Pro Tools überspielt. Hier wurden auch die Vocals, Drums und Overdubs ergänzt. André Wittmann von Meute hat die Drums eingespielt. Auch hier passierte einiges an Nachbearbeitung − etwa extreme Kompression − um dem Sound einen eher synthetischen Charakter zu verpassen und den elektronischen Sounds anzunähern. Vielfach wurden die Drums mit Einzel-Sounds aus dem Tempest oder Battery gedoppelt, um mehr Wumms zu erzielen. Der Mix ist auch im Raum 20 passiert.

Wie setzt du Bad Stream live um?
Wichtig bei Bad Stream live sind die Visuals. Die sind essenzieller Bestandteil des Konzepts und tragen auch alle bisherigen Bad-Stream-Videos. Die Tracks selbst habe ich in Stems zerlegt und in Ableton Live importiert. Das ist praktisch, weil man dort sehr einfach MIDI-synchrone Effekte zur Live-Bearbeitung nutzen kann. Aus der Soundkarte werden Stereosum- men aus Drums und den anderen Sounds ausgespielt − mit Ausnahme der live gespielten Sachen, also Vocals, Piano zusätzliche Synth-Sounds und vor allen die Gitarre.

Zusätzlich habe ich einen Live-Tisch mit Dave Smith Tetra, 303-Clone und Tempest für den Ravepart in den Shows. Der Tempest ist Clock-Master und schickt sei- ne MIDI-Clock an synchronisierte Hardware-Effekte sowie an Ableton Live, um dort etwa iZotope Stutter Edit für die Liveglitch-Bearbeitung der Playback- Sounds syncen zu können. Ich bearbeite also das Ableton-Playback live mit Effekt-Plug-ins, steuere die Hardware-Synths, spiele Gitarre und singe − da ist reichlich zu tun, und es bleibt keine Zeit fürs Mobiltelefon …

 

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