Ich wollte eigentlich Schlagzeuger werden

Francesco Tristano: Konzertpianist und Experimental-Elektroniker

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Über das Megatalent Francesco Tristano wird im Moment viel geredet und geschrieben. Kaum jemand vermag es, auf so geniale Weise Elemente wie Klassik, Minimal-Techno, Expressionismus & Experimental-Elektronik miteinander zu verbinden.

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(Bild: Ralf Kleinermanns)

Virtuos, ausdrucksstark und sich aus einem vielfältigen musikalischen Vokabular bedienend gelingt Francesco Tristano dies mit spielerischer Leichtigkeit – diesen Eindruck bekommt man, wenn man das 2007 veröffentlichte Solopiano-Album Not For Piano des studierten Konzertpianisten hört. Es ist durch und durch von elektronischer Musik inspiriert und enthält neben eigenen Kompositionen Variationen von Tracks wie z. B. Overand der britischen Experimental-Elektroniker Autechre.

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Der 34-Jährige kann bereits gemeinsame Produktionen mit Elektronikgrößen wie Carl Craig oder Moritz von Oswald (Basic Channel) vorweisen. Neben seinen Kollaboration und Soloprojekten gibt es dann auch noch seine Band „Aufgang“, wo Francesco – wie er selber betont – als eines von drei gleichberechtigten Bandmitgliedern agiert. Zwei Pianisten, ein Drummer – die Bandbesetzung mag ungewöhnlich erscheinen, ebenso die Mischung der Musik, die akustisch und elektronisch zugleich ist und mit Elementen aus Pop, Minimal-Techno und Klassik spielt. Man sollte das Trio unbedingt live gehört haben, um zu erleben, wie all dies wie in einem Schmelztiegel zusammenfließt – der Energie, die die beiden Pianisten Francesco Tristano und Rami Khalifé mit dem Drummer Aymeric Westrich dabei freisetzen, kann man sich kaum entziehen.

Wir trafen Franceso 2010 am Tag vor dem Konzert, das im Rahmen der c/o pop in der Kölner Philharmonie stattfand.

Sowohl deine Soloprojekte als auch die Musik von Aufgang werden oft beschrieben, als wollten Menschen wie „Maschinen klingen“. Gefällt dir diese Sichtweise oder fühlst du dich dabei missverstanden?

Francesco Tristano: Diese Sichtweise amüsiert mich … Die Maschinen werden ja vom Menschen erfunden. Und bei sogenannten „musikalischen Maschinen“ muss der Mensch noch immer programmieren, um die Maschinen zum Klingen zu bringen. Wir leben halt in einem technologischen Zeitalter, wo die Grenze zwischen menschlich und maschinell immer unerkenntlicher wird.

In meinem Fall hatte die Auseinandersetzung mit elektronischer Musik großen Einfluss auf meine Art und Weise, Klavier zu spielen, und – in noch größerer Hinsicht – zu komponieren. Ich würde auch behaupten, dass Maschinen wie etwa Drumcomputer großen Einfluss auf die Entwicklung der (menschlichen) Drum-Spieltechnik hatten bzw. haben. Menschen erfinden Maschinen, und erst später lernen die Menschen, diese Maschinen als ganz organische Instrumente zu spielen.

Es ist relativ selten, dass zwei Pianisten eine so vielseitige und intensive Zusammenarbeit verbindet – mit Rami Khalifé tratest du früher schon unter dem Namen Schlimé in Erscheinung …

Francesco Tristano: Rami ist so etwas wie mein Alter Ego. Wir haben uns vor zehn Jahren in New York kennengelernt und viel gemeinsam musiziert und improvisiert. Inzwischen leben wir an verschiedenen Orten und sehen uns nicht mehr so oft. Aber wenn wir zusammenspielen, sind wir Brüder. Was den Namen betrifft, so habe ich zunächst den Namen „Francesco Schlimé“ für die klassischen Aufnahmen benutzt und „Francesco Tristano“ für die nicht-klassischen Elemente. Ab jetzt gilt nur noch Francesco Tristano. Ich bin ja nur eine Person, nicht zwei …

Eigentlich kommst du aber aus der Klassik – woher kommt dieses improvisatorische Element in deiner Musik?

Francesco Tristano: Ich habe mit fünf Jahren mit klassischer Musik begonnen, habe aber gleichzeitig mit dem Improvisieren begonnen. Es war also eigentlich immer da.

Klassikpianisten eilt der Ruf voraus, ihr Spiel wirke hüftsteif, sobald sie improvisieren. Bei deiner Musik gibt’s davon keine Spur …

Francesco Tristano: Ich wollte eigentlich Schlagzeuger werden. (lacht) Ich habe natürlich Bach, Mozart und das große Klavierrepertoire studiert. Da in der Klassik Improvisation eigentlich nicht stattfindet, war es immer eine Art Befreiung für mich, meine eigene Musik zu spielen. So ist das Album Not For Piano als Befreiung anzusehen, da ich damit die Musik aufgenommen habe, die von mir stammt.

Auf dem Album sind auch drei Versionen von Elektronik-Klassikern. Sind dies Stücke, mit denen du aufgewachsen bist?

Francesco Tristano: Ich glaube ich war ein bisschen zu jung, um die Sachen entsprechend wahrgenommen zu haben. Strings of Life (Derrick May) ist ja von 1987. Ich bin 1981 geboren. Ich habe aber so ungefähr 1996 angefangen, elektronische Musik zu hören, und während meiner Zeit in New York (ab 1998) ein starkes Interesse entwickelt, habe DJs kennengelernt, mit denen kollaboriert, deren Mix-CDs gehört, habe mir selber Turntables besorgt und bin so Stück für Stück in diese Welt eingetaucht. Das minimalistische Element hat dann einen starken Einfluss auf mein Spiel gehabt. Minimalismus gibt es ja auch in der Klassik – ich würde zum Beispiel sagen, dass Bach ein großer Minimalist war.

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Francesco Tristano zusammen mit Rami Khalifé und Aymeric Westrich (Drums) in der Kölner Philharmonie (Bild: Ralf Kleinermanns)

Einverstanden. Diese Klarheit im Ausdruck, und dabei keine Note zu viel …

Francesco Tristano: Genau. Es geht aber auch um die Komposition als Limitierung und nicht als unendliche Möglichkeitsform. Ein Präludium von Bach (summt das Arpeggio-Motiv des ersten Präludium) … es gibt ein Element! Das zweite Präludium auch. Diese Konstanz, diese Repetition entspricht, glaube ich, einem naiven, sehr innerlichen Gefühl der Menschheit. Ich glaube gar nicht, dass dies erst die Technologie hervorgebracht hat. Generell empfinde ich die Barockmusik als sehr minimalistisch, dann im 20. Jahrhundert, Erik Satie, John Cage etc.

Es ist besonders, dass du dann nicht, wie die meisten, elektronische Musik mit elektronischen Instrumenten gemacht, sondern einen Weg gefunden hast, sie auf das akustische Klavier zu übersetzen.

Francesco Tristano: Synthesizer bzw. elektronische Instrumente haben mich natürlich immer interessiert, in dem Sinne, mit anderem Sound umzugehen. Als Weiterentwicklung habe ich angefangen, mit den Sounds des Klaviers zu experimentieren. Ich meine damit solche Sounds, die man aus dem Inneren des Klaviers herausholen kann, durch Berühren der Saiten etc.

Also alles, was Geräusche macht und keine Harmonie …

Francesco Tristano: Ich will jetzt nicht debattieren, was Geräusch, was Harmonie und was Musik ist. Das Wunderbare am Klavier ist ja, dass du so viele verschiedene Dinge damit machen kannst. Ich konzentriere mich immer darauf, wie ich mit wenigen Mitteln einen großen Ausdruck erlangen kann – was nichts Neues ist. Aber in der Romantik hat man dieses Element durch das vorherrschend virtuose Spiel mehr und mehr verloren. Ich glaube, man kann zum Beispiel mit ganz kleinen harmonischen Veränderungen über die Zeit sehr viel ausdrücken. Wenn man immer dieselbe Harmonie spielt und dabei nur eine Note variieren lässt, kann das einen enormen Impact haben.

Das trifft bereits für das erste Stück auf Not For Piano zu: Bei Hello variierst du das Motiv über einen großen Zeitraum hinweg. Den zu Beginn minimalen Rhythmus entwickelst du zu einem rollenden Beat, wobei die vorherrschende Harmonie (Cis7#9) teils durch atonale Elemente immer mehr „Noise“, aber auch harmonische Tiefe bekommt. Bei dem Rhythmus gibt es kein Entrinnen mehr …

Francesco Tristano: Dabei ist das Edit auf dem Album mit ungefähr vier Minuten relativ kurz, das Stück kann live noch viel länger dauern. Ich genieße es, diese kleinen Variationen auf extreme Weise auszudehnen. Ich würde gerne mal ein Konzert spielen nur mit Hello. Mal sehen, ob das klappt. (lacht) Auf jeden Fall habe ich für mein nächstes Album (s. Bild) eine Dub-Version von Hello gemacht. Hello steht sozusagen als „Work in Progress“ bzgl. meiner Entwicklung. Es lässt mir viel Platz, um zu experimentieren. Die neue Version ist jetzt ca. 13 Minuten und wurde editiert aus einer 45-Minuten-Version. Dazu kamen noch ein paar Synthesizer; aber was den Sound entscheidend beeinflusst hat, war, dass wir den Sound des Klaviers durch Carl Craigs Modularsynthesizer geschickt haben. So kommt zum Pianoklang eine weitere Dimension hinzu: Piano in Space!

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Francesco Tristano Label: InFiné / AL!VE www.myspace.com/francescotristano Vö: 19.11.2010

Bist du bei dem Album Auricle / Bio / On ähnlich vorgegangen? Man kann hier kaum auseinanderhalten, was gespielt und was editiert ist, ich möchte das wunderbare Album nicht entzaubern …

Francesco Tristano: … ich kann das aber gerne für dich tun, (lacht) denn es wurde so viel über Auricle gesprochen und geschrieben und dabei so vieles missverstanden. Auf Auricle / Bio / On gibt es nur Piano – samples, es gibt kein Live-Piano. Ich habe kurze Sounds und auch lange Passagen aufgenommen und dann in einen Sequenzer importiert. Dann habe ich Drummachines, Synthesizer und auch Audio-Loops hinzu genommen und zwei Mixe in Ableton Live gemacht: Auricle Part One und Aricle Part Two. Alle Sounds kommen von mir, dann kam Moritz’ (von Oswald) Arbeit hinzu. Er ist für die – ich nenne es – „Sound – skulptur“ verantwortlich. Technisch ausgedrückt würde man sagen, er hat das Mastering gemacht; es geht meiner Meinung nach aber weit über ein normales Mastering hinaus, denn er kann bestimmte Elemente auf seine ganz eigene Weise featuren. Der Mix ist von mir, aber der Sound ist von Moritz. Wir werden das Stück übrigens bald zum ersten Mal live spielen, am 28.11.2010 in Hamburg.

Mit Moritz von Oswald und Carl Craig arbeitest du mit den wohl bedeutendsten Persönlichkeiten der Elektronischen Musik – man würde vermuten, dass das nicht immer einfach ist …

Man hört das sicher auch auf ihrem gemeinsamen Re-Composed-Album, beide sind stark unter schiedliche Persönlichkeiten, die sich aber sehr gut ergänzen. Und ich fühle mich sehr wohl mit Moritz und Carl auf der Bühne oder auch im Studio, weil wir eigentlich sehr frei sind und uns ge genseitig sehr schätzen. Wir wissen genau, dass wir alle sehr unterschiedlich sind und welches die Stärken des anderen sind. So gibt es da keine Missverständnisse, sondern nur Vertrauen.

Als ich Not For Piano zum ersten Mal gehört habe, kam ich schnell zu dem Eindruck, dass da etwas Neues auf uns zukommt, und ich entdecke auch jetzt noch immer wieder Neues in den Stücken …

Francesco Tristano: Es freut mich sehr, dass du das sagst. Denn meistens ist es ja bei der Presse so, dass ein erschienenes Album ein Ende für sich darstellt. Im Prinzip sagt man, dass die Platte auf dem Markt ist, dass sie gut ist oder nicht, und das war’s. Für mich ist aber die Recording-Arbeit genau das Gegenteil: Die Arbeit geht über die Zeit hinaus.

Mit „neu“ meine ich, dass man da jemanden hört, der ganz im Hier und Jetzt ist, der die Geschichte der Klassik ebenso verinnerlicht hat wie die Entwicklung von knapp 20 Jahren im Techno. Ich würde behaupten, dass deine Musik zeitgleich mit der elektronischen Musik der Neunziger nicht hätte so entstehen können.

Francesco Tristano: Natürlich habe ich schon mal Gedanken gehabt, ich hätte gern in den Achtzigern in Detroit mitgemischt, aber Not For Piano war für mich wie eine Befreiung, und Musizieren bedeutet für mich auch, meine Zeit zu leben und dies in meiner Musik zu verarbeiten. So war es eine konsequente Entwicklung, dass ich mich immer mehr für zeitgenössische Musiken interessiert habe. Dennoch interessiert mich nach wie vor die Musik früherer Epochen, vor allem aus Barock und Renaissance, auch eben wegen ihres minimalistischen Elements.

Diese Musik hat für mich immer noch etwas Pures, was mich sehr anzieht. Ebenso Saties Musik, sie hat so etwas Intrigantes – sie ist für mich faszinierend und zugleich irgendwie abstoßend. Man verliert nie das Interesse. Und genauso geht es mir mit Maurizio (Moritz von Oswald und Mark Ernests; Anm. d. Red.). Ich werde nie müde, das zu hören, ich habe sie auf dem iPod immer dabei.

Das klingt schon ein wenig nach Zerrissenheit …

Francesco Tristano: Nun, wir leben in einer unglaublichen Zeit, wir sind – auch jetzt wo wir gerade hier sitzen – ständig von Klängen und Eindrücken umgeben. Es gibt so viele Einflüsse, man hat medial direkten Zugang zu praktisch jeder Musik. Ich habe irgendwann erkannt, dass ich nicht damit glücklich werde, nur alte, „klassische“ Musik zu spielen – ich muss auch mal was spielen, das nicht schon komponiert ist. So war für mich klar, dass ich in Richtung Kreation gehen möchte.

Arbeitet man in der Klassik nicht auch kreativ? Es geht ja um Interpretation …

Francesco Tristano: Die Linie zwischen Interpretation und Kreation … ja, darüber kann man lange reden. Sagen wir, dass ich jetzt Kreation mit den Begriffen Komposition, Improvisation oder Produktion identifiziere.

Der Notentext allein ist es ja nicht, man muss sich selber auf die Suche nach der Emotionalität eines Stückes begeben. Es gibt so viele Wege, ein Stück durch Veränderung bestimmter „Parameter“ total anders klingen zu lassen.

Francesco Tristano: Das ist richtig. Ich würde noch hinzufügen, dass bereits die Partitur eine Version für sich ist. Es ist unmöglich, das Ideelle schwarz auf weiß zu drucken. Die Partitur ist so etwas wie eine Gebrauchsanweisung, sie zeigt nur einen, nicht den Weg. Musik hat keinen universellen und allzeitlichen Wert. Sie ist ständig in Bewegung. Schau dir zum Beispiel die Re-Composed-Serie bei der Deutschen Grammophon an. Ich bin froh darüber, dass die sogenannten „klassischen“ Stücke so in die heutige Zeit gebracht werden – dazu mit technischen Möglichkeiten, die damals undenkbar waren. Es ist so, als ob sich die Musik immer wieder neu erfindet – was sie auch tut.

Dazu fällt mir die Musik des Mexikaners Murcof ein, er arbeitet mit historischen Instrumenten, wobei er diese „natürlichen“ Klänge digital bearbeitet und ihnen eine artifizielle Note verleiht. Du hast mit ihm zusammengearbeitet, oder?

Francesco Tristano: Ja, wir sind eng befreundet Er lebt wie ich in Barcelona. Er hat die Tracks von Not For Piano bearbeitet. Er ist ein großartiger Musiker und Künstler unserer Zeit. Was ich bei ihm beeindruckend finde ist, wie er mit Stille umgehen kann. Es heißt, dass Debussy sagte, die Musik seien nicht die Noten, sondern die Stille dazwischen …

 

Dieser Artikel stammt aus KEYBOARDS 05/2010. 

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