Am Anfang war der Sinus

Die Anfänge der elektronischen Klangerzeugung

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(Bild: Matthias Fuchs, Musikinstrumenten-Museum SIM PK/Berlin)

Mit Bob Moog und Don Buchla fing alles an? Mitnichten − die ersten elektronischen Klangmaschinen lassen sich über ein halbes Jahrhundert vor das Erscheinen der allseits bekannten Analog-Synthesizer zurückdatieren. Begeben wir uns ins Paläozoikum der strombetriebenen Musikinstrumente und erkunden die ersten Experimente mit Ton aus Strom.

Die Nutzbarmachung der Elektrizität im ausgehenden 19. Jahrhundert revolutionierte schnell nahezu alle Lebensbereiche. Besonders in Mitteleuropa und den USA zeigten sich bald zahlreiche Erfinder und Wissenschaftler von den Möglichkeiten dieser neuen und geheimnisvollen Energieform fasziniert. Höchst populär war der Versuch, elektrischen Strom zu Klängen zu formen und Instrumente mit bis dato ungeahnten Ausdrucksmitteln zu entwickeln. Experimentierfreudige Komponisten stürzten sich auf diese neuen Möglichkeiten oder wurden gar selbst zu Erfindern und Handwerkern, um ihren Traum vom ungehörten Klang zu verwirklichen. Nicht selten entstanden dabei bestenfalls bizarre Kuriositäten, andere »Machwerke« lieferten dagegen technische Innovationen, die noch heute in modernen Schaltkreisen weiterschwingen. Hier beleuchten wir die ersten Gehversuche der elektronischen Musik.

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Alles im Fluss. Um die plötzliche Faszination an Musik aus »fließendem Strom« nachvollziehen zu können, muss die Rolle der Industrialisierung und des gesellschaftlichen Wandels im späten 19. Jahrhundert betrachtet werden: Die »Moderne« bescherte rapide wachsende Städte mit riesigen Fabriken. Jeder Kontinent war nun per Dampfschiff oder Eisenbahn erreichbar. Weltausstellungen wie in Paris machten Technik und ferne Kulturen zum Gegenstand eines wachsenden Interesses. Wirtschaft, Natur und Kunst wurden zunehmend »verwissenschaftlicht«.

Auch die Musik begeisterte sich plötzlich für außereuropäische Einflüsse (»Exotismus«). Infolgedessen wurde etwa über die Auflösung des traditionellen Tonsystems nachgedacht, und die Klangfarbe rückte in den Fokus der Komposition. Der Ruf nach neuem Instrumentarium mit entsprechenden Fähigkeiten entstand somit fast von allein.

Gleichzeitig boten Wissenschaft und Technik verheißungsvolle Möglichkeiten: Dank Edison-Walze, Schallplatte, Telefon und beginnender Funktechnik ließen sich Klänge erstmals aufzeichnen, speichern, übertragen und − auch ohne schwingende Luftsäulen, Saiten oder Membrane − gezielt erzeugen und formen. Elektronische Musik lag in der Luft.

Am Anfang war der Sinuston

Auf technischer Seite hatte man um 1900 die Natur von elektrischen und magnetischen Wellen weitgehend erforscht und anwendbar gemacht. Es gab Elektromotoren, Dynamos und Transformatoren, Spulen, Kondensatoren und Widerstände. Zudem hatte Hermann Helmholtz schon 1862 in seinem Buch Die Lehre der Tonempfindungen das Prinzip der klangbildenden Obertonreihe vorgestellt und so die theoretischen Grundlagen der Klangformung geliefert.

Die elementare Aufgabe war also gestellt: Wie lässt sich der Obertongehalt eines Signals gezielt beeinflussen? Der Natur des Wechselstroms entsprechend, lieferten die technischen Mittel um 1900 zunächst nur Sinuswellen und damit wenig klangbildendes Potenzial. Aus diesen bescheidenen Mitteln entwickelte der US-Amerikaner Thaddeus Cahill die ebenso naheliegende wie geniale Lösung: die Kombination von Sinuswellen zu komplexeren Signalen − die Grundlagen der Additiven Synthese. Sein Telharmonium (später Dynamophon) besaß um 1897 einen Tongenerator für zwölf Grundtöne (chromatische Skala) und jeweils sieben Obertöne, die sich mittels Schaltersystem kombinieren ließen. Das Instrument war ein 200 Tonnen schweres Monstrum mit zwölf dampfbetriebenen (!) Dynamos sowie rotierenden Zahnradwalzen, welche die notwendigen Wechselspannungen bzw. Sinussignale erzeugten. Immerhin benötigte das Instrument keine Lautsprecher − die waren noch nicht erfunden. Dank der hohen Leistung genügten Spulen und Schalltrichter zur Wiedergabe. Zudem erdachte Cahill eine sehr moderne Form der Aufführung: Er schloss sein klingendes Monstrum an das Telefonnetz an und veranstaltete »Telefonkonzerte« in Hotel-Lobbys und ähnlichen öffentlichen Räumen. Man würde Cahill heute wohl als Erfinder, Musiker und Event-Manager bezeichnen. Sowohl die drei Exemplare seines Instruments als auch Tonaufzeichnungen sind heute leider nicht mehr existent.



Von der Sinuswelle zum Sägezahn vollzog sich die Entwicklung der ersten elektronischen Klanggeneratoren. Während anfänglich Sinuswellen aus Dynamos addiert wurden, erlaubten Elektronenröhren bald das einfache Verformen von Schwingungen. Mit “Erfindung” von Sägezahn und Bandpassfiltern erreichten die früheren elektronischen Instrumente schließlich eine Qualität, die bis in die 1960er-Jahre bestand hatte.

 



Vom Dynamo zur Elektronenröhre

Schon den damaligen Konstrukteuren dürfte schnell klar geworden sein, dass die Additive Klangsynthese mit ihren zahlreichen Tongeneratoren einen für die technischen Mittel der Zeit kaum realisierbaren Aufwand bedeutete. Der erste Additiv-Synthesizer führte also sogleich in eine Sackgasse.

Mit der Erfindung der Elektronenröhre um 1906 änderte sich die Situation schlagartig: Nun war es möglich, auch geringe Spannungen präzise zu steuern und zu verstärken. Das erste Instrument, welches die Elektronenröhre nutzte − und damit gänzlich ohne bewegliche Komponenten auskam −, war das Theremin. Interessanterweise hatte Lew Termen, ein Physikprofessor, Erfinder und Hobbymusiker aus St. Petersburg, zunächst eine Art Bewegungsmelder im Sinn. Vermutlich teilte auch er die allgemeine Begeisterung für »künstlich« erzeugte Klänge und leitete daraus um 1922 das bis heute bekannte »Ätherwelleninstrument« ab, dessen berührungsloses Spiel damals wie heute faszinierte.

Das Theremin nutzt das Prinzip des sogenannten Schwebungssummers aus der Funktechnik. Dabei überlagert man zwei hochfrequente Sinusschwingungen, eine davon mit fester, die andere mit variabler Frequenz, und erzeugt dadurch eine dritte Sinusschwingung mit der Differenzfrequenz (»Schwebung«). Sie liegt im Audiobereich. Handbewegungen steuern den variablen Oszillator und somit die Tonhöhe des Audiosignals.

Das Ur-Theremin erlaubte keinerlei Variation der Klangfarbe. Seine ungewöhnliche Publikumswirkung und die kompakte Größe sorgten dennoch für anhaltenden Erfolg. Schon 1929 wurden in den USA 500 Exemplare gefertigt. Ab den 1950er-Jahren entdeckten Hollywood (von Psycho über Star Trek bis Mars Attacks) und später die Popmusik das Theremin (u. a. Beach Boys, Led Zeppelin, The Legendary Pink Dots).

Sinuswellen verbiegen

Inspiriert vom Theremin stattete auch der französische Musikpädagoge und Radioamateur Maurice Martenot um 1928 sein Ondes Martenot mit einem Schwebungssummer zur Klangerzeugung aus. Allerdings finden sich hier erste Ansätze zur Klangformung ohne aufwendige Additiv-Synthese: Bekanntermaßen lässt sich eine Verstärkerröhre gezielt übersteuern. Sie verbiegt dann ein Sinussignal zunehmend in ein obertonreicheres Rechteck − Stichwort: Waveshaping. So geschehen im Ondes Martenot. Besondere Tonstrahler dienten als zusätzliche Klangformungselemente. Die Tonhöhe des monofonen Instruments wurde mit einer Kombination aus Drahtmanual und Klaviatur gesteuert. Das ermöglichte eine genaue Intonation, aber auch Glissandi und Mikrointervalle. Ebenso ließ sich zwischen staccato und legato differenzieren.

WDR: Studio für Elektronische Musik Köln

Mit dem Ondes Martenot interessierten sich erstmalig bedeutende Komponisten für ein elektronisches Instrument. So schrieben u. a. Arthur Honegger (Jeanne d’Arc au bucher), Olivier Messiaen (u. a. Turangalila Sinfonie) und Edgar Varese (Ecuatorial) für das Ondes Martenot. Ab 1947 wurde es sogar am Pariser Konservatorium unterrichtet und bis in die 1980erJahre von der Familie Martenot gefertigt, ab 1974 mit Transistortechnik.

Auch das Ondes Martenot ist in mehreren Filmmusiken zu hören (u. a. Lawrence von Arabien, Das Milliarden-Dollar-Gehirn, Ghostbusters, There Will Be Blood). In der Popmusik haben es u. a. Radiohead, Bryan Ferry und Yanne Tiersen verwendet. Heute kann man sich am Ondes Martenot als NI-KontaktInstrument erfreuen.

Mehrstimmig und multitimbral

Deutlich weniger populär, aber dennoch technisch interessant ist Jörg Magers Sphärophon/Partiturophon. Der süddeutsche Organist und Hobbytechniker arbeitete ab 1921 an einem Instrument, welches Vierteltöne liefern sollte. Ebenfalls auf dem Schwebungssummer basierend, musste die Tonhöhe bei ersten Exemplaren um 1926 über zwei Kurbeln gesteuert werden. Um 1931 baute Mager das Partiturophon mit bis zu vier Klaviaturen plus Pedal, um erstmals mehrstimmiges Spiel mit maximal fünf Klangfarben gleichzeitig zu ermöglichen.

Auch Mager versuchte sich offenbar an einer Klangformung mittels »Waveshaping«. Allerdings setzte er auf vormagnetisierte Trafos, um die Sinusschwingungen des Schwebungssummers »plattzudrücken« − ein Effekt, der uns auch heute noch in deutlich abgeschwächter Form bei der Trafo-Symmetrierung begegnet. Nachdem Paul Hindemith sich für das Instrument zu interessieren begann und das Partiturophon zur Simulation der »Parsifal-Gralsglocken« bei den Bayreuther Festspielen von 1931 zum Einsatz kam, stieg Magers Bekanntheit zumindest in Expertenkreisen. Langfristige Popularität war dem offenbar schwierigen »Einzelkämpfer« jedoch nicht vergönnt. Seine wenigen Instrumente wurden vermutlich im Krieg zerstört, und Magers Werk geriet in Vergessenheit.

Dreieckswellen und Formanten

Einen Quantensprung in Sachen Klangformung lieferte Friedrich Trautweins Trautonium. Der Rundfunkingenieur und Hobbyorganist begann, sich in den frühen 1920ern für elektronische Klänge zu interessieren. Bahnbrechend war sein Vorhaben, »Teiltöne mithilfe von Filtern abzuschwächen oder zu eliminieren«. Hier ging es also darum, zunächst eine möglichst obertonreiche Schwingung (Sägezahn) zu erzeugen und dieser wiederum bestimmte Frequenzen zu entziehen bzw. zu betonen. Betont wurden die sogenannten Formanten, also bestimmte Frequenzbereiche, die, unabhängig von der Tonhöhe, wesentlich zur Ausprägung der Klangfarbe beitragen. Sie wurden erstmals 1929 von Erich Schumann beschrieben. Als Filter dienten »Siebschaltungen«, d. h. passive Bandpässe aus Kondensatoren und Spulen, die sich wahlweise aktivieren ließen. Die betreffenden Signalanteile konnten mit regelbarem Pegel zum Oszillator-Ausgang zurückgeführt werden und beeinflussten so abermals den Klang. Diese Anordnung war technisch einfach zu realisieren und klanglich sehr ergiebig. Somit gilt das Trautoniums als direkter Vorläufer der heute allgegenwärtigen Subtraktiven Klangerzeugung.

Peter Pichler Live am Trautonium

Das Trautonium entstand im wissenschaftlichen Umfeld der »Rundfunkversuchstelle der Hochschule für Musik Berlin-Charlottenburg«. Erklärtes Ziel war zunächst die künstliche Erzeugung von Stimmlauten. Im Laufe der Zeit wurde das Instrument immer weiter verbessert und seine musikalische Ausdrucksfähigkeit erweitert. Namhafte Komponisten wie Paul Hindemith und Oskar Sala komponierten für das Trautonium. Um 1933 ergänzte Sala Frequenzteilerschaltungen, um pro Ton bis zu vier tiefer gestimmte Intervalle und damit mehrstimmiges Spiel zu ermöglichen (»Mixturtrautonium«). Seinen wohl prominentesten Auftritt hatte das Trautonium in Alfred Hitchcocks »Die Vögel«.

Nachfolgende Instrumente wie etwa das Heliophon kombinierten, mehr oder weniger variiert, die damals populären, oben beschriebenen Elemente. Erst die Erfindung von aktiven Filterschaltungen und spannungssteuerbaren Komponenten in den 1960ern wandelte wieder langfristig das Gesicht der elektronischen Instrumente.

Für Infos und Material bedanken wir uns herzlich bei Dr. Benedikt Brilmayer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikinstrumenten-Museum des SIM PK, Berlin.

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