Der Bademantelmann

Chilly Gonzales – Das ist gutes Entertainment

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Chilly Gonzales Aufmacher
Chilly Gonzales performs a one-off show accompanied by the BBC Symphony Orchestra conducted by Julian Buckley at the Barbican, London on Saturday 20 Oct. 2012. Photo by Mark Alla

Ist es wieder an der Zeit? Ja, unbedingt! Seit dem letzten Interview zum Release von Solo Piano II im Jahre 2012, stand der Meister nicht nur etliche Male umjubelt auf der Bühne — im vertrauten Bademantel, vollends verschwitzt.

Der Workaholic hat auch ganz neue Geisteskinder in die Musikwelt entlassen, auf bisher unbeschrittenem Parkett. Zusammen mit dem Techno-DJ und Produzenten Boys Noize hat er jüngst das Projekt „Octave Minds“ erschaffen, welches Gonzales – selbstbewusst und akkurat – als „New Age Electronic Romance“ klassifiziert. Und mit „The Shadow“ eroberte er das Theater für sich: Unter der Regie von Adam Traynor (der hatte zuvor mit den HipHop-Puppenspielern „Puppetmastaz“ gearbeitet und mit Gonzales bereits einen Spielfilm gedreht) überträgt Gonzales das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen in eine kammermusikalische Fassung für Schauspieler, Puppen und Schatten. Der Plot vom Schatten, vom Doppelgänger, der die Abgründe der Seele repräsentiert, dürfte den geborenen Entertainer besonders gereizt haben – schließlich trägt auch er eine zweite (machmal rüpelige) Bühnenpersönlichkeit mit sich herum. Schließlich, zur besonderen Freude aller Keyboarder, gibt es auch wieder neue Noten namens „Re-Introduction Etudes“, inklusive Video-Tutorials für jedermann, umsonst und online.

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Und bei all dem findet Gonzales täglich noch eine halbe Stunde Zeit, um Seite für Seite alte Bach-Choräle zu spielen, „denn alles, was du heute in Pop- oder Jazzmusik hörst, kommt von diesen 400 Jahre alten Chorälen!“ Vielleicht sind Gonzales und Bach auch seelenverwandt? „Bedenke, zum ersten Mal in der Musikgeschichte kamen normale Menschen gezielt zum Musikhören in die Kirche, und zwar um neue Stücke zu hören; er hatte ein Publikum, und die haben etwas von ihm erwartet!“ Ja, das trifft es auch bei Gonzales. Und er liefert!

In Produktionen wie „The Shadow“, mit einer Vielzahl unterschiedlichster Künstler, ist er aber auch ein Stück weit ausgeliefert – bedeuten Kollaborationen doch stets einen gewissen Verlust von Kontrolle. Ist das für einen Perfektionisten und Kontrollfreak wie Gonzales nicht der pure Horror?

Natürlich, Kontrolle ist wichtig. Aber: Kontrolle ist nicht das Ziel! Das Ziel ist, sich wohl zu fühlen, das Ziel ist „comfort“. Und Kontrolle ist ein Mittel auf dem Weg dorthin. Überhaupt … wenn ich mit Leuten arbeite, die ich schon kenne, brauche ich keine Kontrolle, da fühle ich mich immer wohl – bei Aufritten mit dem Kaiser Quartett zum Beispiel. Ich fühle mich auch überhaupt nicht als Solokünstler, als ein „Loner“! Schließlich kollaboriere ich ständig mit anderen Musikern – Menschen wie Feist oder Peaches gehören sozusagen zu meiner Musikfamilie. Ich helfe ihnen mit ihren Projekten, sie helfen mir mit meinen … Aber es ist natürlich wichtig, mit Leuten zu arbeiten, die so ticken wie ich – denn da geht es eben ums Wohlfühlen, um das gute Gefühl, sich mit jemand anderem genau zu verstehen. Kontrolle ist also auch eine Form der Vorsicht: Wenn man ganz plötzlich mit 15 neuen Menschen zusammen arbeiten muss, bedeutet das auch 15 Mal das Risiko für schlechte Energien! Man muss also sehr vorsichtig sein, damit möglichst in jedem der Fälle die positive Energie aufrechterhalten wird.

>> Drumcomputer & Programming: Am Anfang war der Groove <<

Bei deinen Solo-Piano-Alben hast du hingegen alles selbst in der Hand …

Nein, dieses Bild vom „one man alone“ stimmt gar nicht, und das ist mir wirklich wichtig: Solo Piano II wäre nicht dasselbe ohne meinen Produzenten Renaud Letang! Der zerbricht sich komplett den Kopf über den Klavierklang, damit dieser einerseits modern klingt, also lautstark und dynamisch, ein Klang für das Jahr 2014, aber gleichzeitig lässt er den Hörer an ältere Aufnahmen aus Klassik und Jazz denken, also daran, wie Schallplatten aus den 50er- bis 70er-Jahren geklungen haben – das goldene Zeitalter des Recordings. Dass wir Solo Piano II über 100.000 Mal verkauft haben, liegt also nicht nur daran, dass ich so ein toller Musiker bin!

Bei Octave Minds hört man sofort mehr als nur dich – und mit deinem alten Freund Boys Noize warst du sicherlich stets in deiner Wohlfühlzone?

An Octave Minds haben Boys Noize und ich fast drei Jahre gearbeitet, immer wieder „on and off“. Anfang dieses Jahres haben wir gemerkt, dass die Zeit reif ist, dass wir etwas zu sagen haben, und zwar der Musikwelt, die sich immer mehr im Internet abspielt; den Fans, die auf diesem Weg Musik konsumieren. Diese neue „Marke“ hat ja auch nichts mit Chilly Gonzales oder Boys Noize zu tun; hier hat nicht der eine den anderen produziert. Viele Stücke entstanden tatsächlich als Live-Jam, mit mir am Klavier oder Synthesizer und er mit Drum-Machine und Realtime-Klangmanipulationen. Octave Minds passiert also, wenn wir gemeinsam im Studio sind, gemeinsam musizieren, kommunizieren, ja unsere Gedanken verschmelzen. Daher auch der Name: Unsere Gedanken resonieren miteinander in etwa wie Oktaven – die sind ja auch „gleich, nur verschieden“.

Das Bestechende an Octave Minds bleiben für mich deine Klavierfiguren. Sie sind wie kleine, lebendige Gestalten, mit einer inneren Logik und doch einer Natürlichkeit.

Das ist überhaupt das Wichtigste, die musikalisch kohärente Geste! Ob du es nun Leitmotiv nennst oder „Zelle“, wie es Jazzmusiker manchmal tun, eine „Miniatur“, da gibt es tausend Bezeichnungen. Gemein ist die Idee, dass – ganz unabhängig vom Klangbild eines Instruments oder Arrangements – das Thema selbst die Kohärenz herstellt! Das ist natürlich total oldschool: In der Popmusik ist der Sound einfach total wichtig, du kannst den Klang nicht mehr vom musikalischen Material trennen. Ich glaube aber immer noch, dass sich das musikalische Material in jeden Klang übersetzen lässt.

Die Leute sagen mir oft: „Du bist in so vielen Stilen unterwegs, du brichst alle Genregrenzen auf“, und ich denke dann: „Hm, na dankeschön, aber das stimmt so nicht!“ Ich fokussiere mich nur ganz auf das musikalische Material in seiner vor-klanglichen Form. Und wenn dieses Material erst mal da ist, diese musikalische Logik, dann bin ich komplett open-minded, da bin ich ein Mann meiner Zeit: Es kann eine Etüde draus werden oder eben der nächste Track mit Boys Noize oder der nächste Track, den ich [dem kanadischen Rapper] Drake schicke.

Chilly Gonzales

Den Klang bestimmt also jemand anderes …

… wie Renaud Letang oder Boys Noize, exakt! Nicht nur, weil ich keine Extra-Jobs machen will – ich führe ja auch keine Regie beim Film, ich bin nicht der Regisseur im Theaterstück. Man muss ganz einfach seine eigenen Schwächen kennen: Wäre ich ganz alleine verantwortlich, dann klänge meine Musik nicht so modern, wie sie ist. Man muss clever sein und sehen, worin man selbst schlecht ist!

Man sieht dich immer als den geborenen Entertainer, aber mit deinen Notenbüchern gehst du viel weiter als nur ein Unterhalter zu sein – du bist doch ein Missionar für das Klavier an sich?

Vergiss nicht: 1850 bedeutete Entertainment – also Unterhaltung – das Spielen von Notenblättern auf dem Hausklavier. (lacht) Das Klavier war der Laptop seiner Zeit, das Produkt der Unterhaltungsindustrie; da gab es mehr Klaviere als Badewannen! Mit den „Re-Introduction Etudes“ wollte ich in diese Zeit zurückweisen. Heute mag es der Laptop sein: Mein 13-jähriger Neffe macht Dubstep mit Ableton Live, wirklich überzeugende Stücke – eben wie ein 13-Jähriger damals vielleicht Klaviersonatinen von Clementi gespielt hätte. Eine tiefere, persönlichere Erfahrung mit Musik, auch das war und ist eben Entertainment! Computer oder Klavier – in beiden Fällen ist es eine fundamentale Auseinandersetzung mit Musik, um sich persönlich zu „entertainen“.

Chilly Gonzales - Bechstein

Ist dies das Fundament deines Entertainments: einen persönlichen Zugang zu deiner Musik zu legen – zur Musik überhaupt?

Man muss das Publikum ja durch seine Musik hindurch begleiten, es führen. Das meine ich mit dem Entertainment, über das ich immer spreche: Musik an sich ist manchmal nicht genug. Die Leute brauchen manchmal eine Geschichte dazu oder einen Hintergrund, einen Kontext, um einzuordnen, welche Bedeutung diese Musik für sie selbst haben kann.

Zum größten Teil mache ich ja Instrumentalmusik. Und Instrumentalmusik, ohne einen gesungenen Text, kann den Hörer tatsächlich einschüchtern. Aus dem Grunde gehen auch viele Museumsbesucher einmal ganz nah ans Bild heran: Sie wollen den Titel des Gemäldes erfahren. Und dieser Titel kann ihnen tatsächlich helfen, in das Kunstwerk hineinzufinden.

Entertainment bedeutet für mich, den Hörern Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie sich auf meine Musik einlassen können. Und es gibt tausend Möglichkeiten für Künstler, dies zu tun, ob in Werktiteln, Cover-Fotos oder eben auch Interviews – der Grund für all diesen außermusikalischen Kram ist, dass du damit dein Publikum durch die Musik führen kannst. Es muss ja kein Bademantel sein (lacht) – aber wenn du nicht erfolgreich bist, hast du wahrscheinlich noch keinen persönlichen Weg zum Publikum gefunden, auf dem du es führen kannst!

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