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Nord Electro 5D/73HP im Test

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Wie das ebenfalls rote Schweizer Messer verbindet das Nord Electro die existenziell notwendigen Werkzeuge des Live-Keyboarders in einem einzigen Paket. Als Spezialist für die heilige Vintage-Troika aus Akustik-, E-Piano und Orgel hat sich das Combo-Keyboard auf internationalen Bühnen einen festen Platz erspielt.

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(Bild: Dieter Storck)

Die B3 mal wieder in der Werkstatt, und das Fender Rhodes immer noch verliehen? Für alle, die keine Lust haben, die schwergewichtige Vintage-Keyboardburg von Gig zu Gig zu wuchten, dürfte Clavias Combo-Lösung eine echte Offenbarung sein. Mit dem in drei Varianten erhältlichen Live-Keyboard packen die Schweden die beliebtesten Orgel-Sounds, E-Piano-Derivate und Akustikpianos in ein handliches Bühnenformat. Mittlerweile in der 5. Generation angelangt, ist das Nord Electro bereits selbst zum modernen Klassiker und einer festen Institution im Bandbetrieb avanciert.

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Mit der aktuellen Revision beschert uns Clavia nun einige bisher schmerzlich vermisste Optimierungen und präsentiert unter anderem das Ergebnis eines heißen Flirts mit einem anderen Vertreter der roten Flotte: dem Nord Stage!

Alles im Griff.

Schnörkellose Bedienung und der direkte Zugang zu allen Parametern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Clavia-Modellreihen. Während andere Hersteller ihre Kunden zu ausgedehnten Tauchfahrten in die mächtigen Abgründe leistungsstarker Submenü-Kaskaden einladen, verfolgte Clavia bereits von Anfang an den puristischen Weg und integrierte alles Lebenswichtige mit einem entsprechenden Knopf oder Regler direkt auf der Oberfläche des Keyboards.

Zu den markantesten Neuerungen (zumindest bei den D-Varianten mit 73 und 61 Tasten) dürften in diesem Zusammenhang die von der Nord C2D übernommenen Zugriegel in der Orgel-Sektion darstellen. Auch wenn die immer noch bei der HP-Version (73er Electro 5 mit Hammertastatur) verwendete LED-Variante mit Up&Down-Button ebenfalls hinreichend praktikabel erscheint, bringt die Drawbar-Ergänzung für meine Begriffe doch einen deutlichen haptischen Zugewinn mit sich. Wer darüber hinaus das HammondB3-Feeling noch weiter erhöhen möchte, kann sein Nord Electro 5 zusätzlich mit einem klassischen Halbmond unterhalb der Tastatur für die virtuelle Leslie-Steuerung nachrüsten

Ein beispielloses Top-Feature für den Live-Betrieb ist auch die nun komplett im Stereo-Modus operierende Effekt-Sektion. Übersichtlicher und schnellerlassen sich Effekte während einer Live-Performance eigentlich nicht editieren und zuschalten. Neu mit im Boot ist in diesem Bereich außerdem neben den üblichen Verdächtigen (Reverb, Delay, Flanger, Phaser, Tremolo, Wah) und verschiedener Speaker/Amp-Simulationen (u. a. Modelings eines Fender Twin Reverb und eines Roland Jazz Chorus) samt Kompressor ein neuer Tube-Overdrive-Effekt, welcher sich stufenlos durch die Sättigung bis an die Verzerrerwand fahren lässt.

Dreh- und Angelpunkt.

Mit der aktuellen Geräte-Generation erhält das Electro 5D nicht nur die Drawbars der großen zweimanualigen Orgelschwester C2D aus gleichem Hause, sondern bemächtigt sich auch ihrer ausgefeilten Klangerzeugung samt des viel gelobten virtuellen 122er-Leslie-Klons. Besonders die virtuelle B3 gewinnt mit dieser Aufwertung deutlich an klanglichem Boden. Apropos Boden: Mithilfe der neuen B3+Bass-Option lassen sich die virtuellen 16′- und 8′-Tonewheels des Fußpedals in die linke Hand legen (welche sich gesplittet auch mit der Piano und Sample-Bank kombinieren lassen).

Zu den bereits im Electro 4 die Orgelbank bereichernden Vox- und Farfisa-Emulationen gesellt sich außerdem ab sofort eine klanglich schöne Pfeifenorgel (ebenfalls aus der C2D), welche in der Praxis auch jenseits von Toccata und Sonntagsmesse zum Zug kommen dürfte

Wo der Hammer hängt.

Neben der fest implementierten Orgel-Rubrik wird es bereits im Bereich der Piano-Sektion ausgesprochen variabel. Ausgeliefert wird das Electro 5D mit wohlsortierten Soundklassikern aus der akustischen und elektromechanischen Ecke, womit die meisten Rhodes-, Clavinet- und Grand-Piano-Fans bereits glücklich werden dürften. Ergänzt wurde außerdem die bereits vom Nord Stage bekannte optionale Seitenresonanz-Zuschaltung, gepaart mit der Möglichkeit einer längeren Release-Zeit für akkuratere Legato-Passagen. Darüber hinaus steht dem Electro-User auch noch die komplette Nord-Piano-Library in jeweils vier speicherplatzrelevanten Qualitätsstufen (XL, L, M und S) zur kostenfreien Verfügung. Mittels der zum Download bereitstehenden »Nord Sound Manager«-Software für Mac und PC lässt sich so die eigene Piano-Wunschkonfiguration im Handumdrehen per Drag&Drop in den Gerätespeicher verfrachten. Aber nicht vergessen: 1 GB is the sky … and the sky is the limit!

Sample Synth. Mussten sich die Sounds der ebenfalls kostenfrei auf DVD mitgelieferten Nord-Sample-Library beim Vorgänger bisher ein schmales Speicherbudget mit den klavierartigen teilen, darf man sich beim Electro 5 nun über eine neue »Sample Synth«- Rubrik freuen. Neben den Stock-Sounds ist diese aber vor allem auch wegen der Möglichkeit, eigene Samples via Nord Sample Editor (Mac/PC) einzupflegen, interessant. Trotz des von Clavia entwickelten Lossless Compression Algorithmus’, welcher in der Lage ist, kleinsten Sampledateien zu größtmöglichem Sound zu verhelfen, hätte man sich in diesem Bereich allerdings statt der verbauten 256 MB doch ein bisschen mehr an Speicher- und Spielplatz gewünscht.

Im Vergleich zum Kollegen Nord Stage 2 ist die Parametersteuerung des Sample Synth deutlich im Umfang reduziert. Trotzdem lassen sich mit einem dynamisch ansprechenden Tiefpassfilter, drei Dynamikkurven und einer simplifizierten Regelbarkeit von Attack, Decay/Release und Sustain (für Loops) recht schnell zufriedenstellende Modifikationen erledigen

Gemischtes Doppel.

Spätestens jetzt kommt der Moment, in dem man schlagartig feststellt, dass das neue große Display nicht nur ausgesprochen cool aussieht, sondern auch im erheblichen Maße zur Übersicht beiträgt.

Mit dem vorliegenden Electro 5 gibt die Modellreihe ihre bisherige Monotimbralität auf. Im Ergebnis bedeutet dies, dass ab sofort zwei Sound-Slots gleichzeitig genutzt werden können, was in Kombination mit dem bereits weiter oben erwähnten Synth/Sample-Player-Modul völlig neue Klanggestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Dabei lässt sich jede Engine mit jeder anderen kombinieren, allerdings nicht mit sich selbst. Abgesehen von Layer-Sounds lassen sich die Upper/ Lower-Kombinationen natürlich auch im Split-Modus mit beim Electro 5 sechs vorkonfigurierten und nicht änderbaren Split-Punkten nutzen. In diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen ist die Tatsache, dass jeder einzelne Sound mit einer eigenen Effektauswahl mittels Part-Selektierung kombiniert werden kann.

Alles im Fluss. Eine schöne, praxisgerechte Funktion hat es mit dem »Set List Mode« in das Electro geschafft. Zugegeben, wirklich neu ist diese Idee freilich nicht, sie besticht beim roten Schweden aber wieder einmal durch eine auf das Wesentliche reduzierte Simplizität. Songs lassen sich hier mit bis zu vier Setup-Parts (Solo oder Split) anlegen und dann in die Set-Liste sortieren. Fertig! Über die unterhalb des Displays gruppierten Live-Programm-Taster (A, B, C, D) kann man die programmierten Parts eines Songs außerdem während des Gigs bequem selektieren.

Als echtes Highlight entpuppt sich in der Praxis die verwendete semi-gewichtete Waterfall-Tastatur (pianokantenfrei) aus der italienischen Tastaturenschmiede Fatar. Wer auf der Suche nach dem optimalen Kompromiss zwischen Hammermechanik- und Synthesizertastatur, gepaart mit Orgelkompetenz, ist, sollte sich die Modellvarianten Electro 5D 61 und Electro 5D 73 einmal unter den Fingern zergehen lassen. Aber Vorsicht! Nach ein, zwei Organ-Grinds besteht extreme Kaufgefahr!

Und? Gute Kombination?

Auf jeden Fall! Ohne sich zu waghalsigen Experimenten hinreißen zu lassen, beweist Clavia mit dem Nord Electro 5 wieder einmal aufs Neue, dass klangliche Stärke in Kombination mit einem auf das Wesentliche reduzierten Bedienkonzept in der Praxis mehr als aufgeht. Mehr Vintage-Vibe lässt sich aus einem digitalen Klangerzeuger schon fast nicht mehr herauskitzeln.


 

Hersteller/Vertrieb:

Clavia/Sound Service

Internet:

www.sound-service.eu

UvP/Straßenpreis:

€ 2.140,− / ca. € 1.800,−


 

DAS NORD ELECTRO 73HP IM PRAXIS-CHECK

Musikmachen ist nicht nur eine Frage von Sound, Fingerfertigkeit und musikalischem Know-how, sondern auch immer eine Frage des Rückens − das hat ja auch Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling schon früh ins Bewusstsein der schleppenden Zunft gehämmert: »Ich hab Rücken!« Und die Vorteile der 73er-HP-Tastatur liegen klar zutage: Mit 73 Tasten werden die wesentlichen pianistischen Bereiche abgedeckt, und die Länge von 104 cm ermöglicht auch noch den Transport der Tastatur quer auf der Rückbank eines PKW. Mit den direkt zugänglichen Oktavierungs-Tasten kann die Klangerzeugung schnell und unkompliziert um eine Oktave (oder mehr) verschoben werden, wenn z. B. das Kontra »c« erreicht werden soll

Die HP-Tastatur wird ebenfalls von Fatar produziert, und Clavia legt Wert auf die Feststellung, dass die Tastaturen im Werk noch einmal sorgfältig justiert werden, sodass man eine optimierte gewichtete Hammer-Action-Tastatur erhält. Und dieser Eindruck hat sich im Praxistest durchaus bestätigt, man hat sofort den Eindruck, eine wertige gewichtete Tastatur unter den Fingern zu haben und keine halbgewichtete, welche man bei dem Gewicht von 11,4 kg eigentlich vermuten sollte.

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(Bild: Dieter Storck)

Der zweite Eindruck nach längerem Spiel ist immer noch grundsätzlich positiv, aber der notorische Nörgler in mir hat dann doch Folgendes anzumerken: Im Vergleich zu den hochwertigen Tastaturen der deutlich teureren Flaggschiffe anderer Hersteller fällt auf, dass die Tastatur ein wenig träge reagiert und der eigentliche Druckpunkt fehlt, an dem der Hammer abgeht. Auch die differenzierte dynamische Ansprache der Klaviersounds ist für meine Begriffe ein wenig eingeschränkt. Diese funktioniert zwar erheblich besser als beim Vorgängermodell 4HP, allerdings ist es trotz der vier zur Wahl stehenden Velocity-Kurven schwierig, ausdrucksstark im Piano- und Mezzopiano-Bereich zu pianieren. Den Bandkeyboarder wird das nicht stören, aber wenn man nuanciert solopianistisch unterwegs ist, benötigt man schon mal einen breiteren Spielraum im unteren dynamischen Bereich.

Wie schön wäre es, wenn man an dieser so eminent wichtigen Schnittstelle zwischen Musiker und Instrument individuelle Einstellungsmöglichkeiten hätte. Trotz dieser Einschränkungen bin ich angesichts des gelungenen Kompromisses von qualitativ hochwertiger Reisetastatur, des niedrigen Gewichtes und der guten Klaviersounds gerne bereit, das Nordelectro 5 HP73 einzusetzen.

Autor: Wolfgang Wierzyk

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