Jazz Made in Germany

Tim Sund und The Mightiest Ever

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Gesucht wird: ein Jazzpianist, den es nach dem Jazzstudium an einer deutschen Musikhochschule in die USA zog, dessen Karriere sich als eine musikalische Reise erzählen lässt, die beim Korg Poly 800 beginnt und — vorerst — beim Korg Kronos angelangt ist, und …

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… ferner ein Jazzpianist, der sich in seiner Arbeit immer wieder auf die Errungenschaften der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts bezieht – aber sein aktuelles Album den beiden Songwritern der Melodic-Prog- Legende Supertramp widmet.

Nun ja, um ehrlich zu sein, wird dieser Musiker nicht mehr gesucht, denn Home-Cooking-Autor Jarry Singla kennt ihn aus gemeinsamen Studienzeiten und portraitiert in dieser Folge den seit vielen Jahren in Berlin lebenden Ausnahmepianisten, Komponisten und Keyboarder Tim Sund.

Geboren in Hagen, zog es Tim nach seiner Ausbildung an der Kölner Musikhochschule und einem Privatstudium bei Richie Beirach in New York 1995 erneut dorthin, um an der Manhattan School of Music bei der großartigen Komponistin Ludmila Ulehla ein Magisterstudium in klassischer Komposition anzuschließen.

Heute kann er auf ein unglaublich umfangreiches kompositorisches Werk zurückblicken. Es umfasst Kompositionen für Orchester und kammermusikalische Besetzungen, eine Kammeroper, ein Klavierkonzert und Lieder. Neben der Musik von Igor Strawinsky, Alban Berg und Toru Takemitsu fühlt sich Tim Sund insbesondere zu amerikanischen Komponisten wie Charles Ives, Carl Ruggles, Samuel Barber, Morton Feldman, John Cage und Steve Reich hingezogen.

Aktuell bringt Tim all diese musikalischen Interessen in sein wichtigstes Projekt ein: die Band „The Mightiest Ever“, mit der er im April bei dem renommierten deutschen Label ESC-Records das Album NOW veröffentlicht hat.


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Tim, trotz deiner Ausbildung als „akustischer“ Jazzpianist gehörst du zu den Musikern, die eine Menge über ihre Arbeit mit Synthis und Keyboards erzählen können. Neben dem Klavier begleiten dich diese Instrumente seit deiner Kindheit …

Als ich so 12 Jahre alt war – zu der Zeit schon ein braver klassischer Klavierschüler – zeigte unser Musiklehrer uns Emerson, Lake & Palmers Rockversion von Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung. Und er brachte einen Synthesizer mit in den Unterricht. Ich war völlig beeindruckt und hatte sofort Feuer gefangen. Also habe ich gespart und mit der Hilfe meiner Eltern und Großeltern meinen ersten Synthesizer erstanden: einen Korg Poly 800. Mehr war einfach nicht drin, aber ich war im siebten Himmel.

Es dauerte nicht mehr lange bis zur Gründung meiner ersten Band, und dann kamen noch ein Hohner Pianet T sowie ein Moog Prodigy hinzu. Als ich mit 15 Jahren endgültig den Jazz für mich entdeckt hatte und feststellen musste, dass ich erst einmal richtig Klavierspielen lernen müsste, habe ich den ganzen Kram aus eigenen Stücken wieder verkauft und mich ans Üben gemacht.

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Trotzdem haben die elektronischen Keyboardinstrumente dich nicht losgelassen. Wie, wann und wieso bist du wieder zurück zu den Keyboards gekommen?

Na ja, als es so Richtung Studium ging, begann ich wieder, in Bands zu spielen. Jetzt allerdings ausschließlich Jazz. Und da war relativ bald klar, dass man für bestimmte Arten von Muggen (Mugge = Musik gegen Geld) auf jeden Fall ein E-Piano mitbringen musste. Darum kaufte ich meinem damaligen Lehrer Hubert Nuss sein Yamaha KX88 (Masterkeyboard) ab, um damit irgendein für heutige Verhältnisse indiskutables Pianomodul anzusteuern. Kurze Zeit später kam ein Yamaha TG77 hinzu.

Mit dem elektronischen Kram habe ich aufgehört, als ich der Einladung von Richie Beirach nach New York folgte. Da ich für diesen Trip Geld brauchte und meine Zelte in Deutschland vorerst abbrach, habe ich die Sachen noch vor meiner Abreise 1993 verkauft. Und dann hatte ich erst mal nichts mehr mit Keyboards und Elektronik zu tun, bis ich mich 2009 dazu entschied, The Mightiest Ever ins Leben zu rufen.

Mit welchem Gear wurde euer aktuelles Album NOW aufgenommen?

Im Studio habe ich einen Steinway D- Flügel (Hamburger Modell), ein 88er Nord Stage, einen Roland Juno-G, einen Roland Fantom-G6 sowie den Softsynth Omnisphere von Spectrasonics benutzt.

062003-768x768Aber kurz nach den Aufnahmen hast du dich dann für einen kompletten Wechsel deines Setups entschieden. Warum?

Das hängt unter anderem mit der Live- Situation zusammen. Für die vielen „fliegenden Soundwechsel“ innerhalb eines Stückes war meine Zusammenstellung von Instrumenten einfach nicht ausgelegt. Ursprünglich bin ich eigentlich durch meine Begeisterung für das Nord Stage zu den Keyboards zurückgekehrt. Die bestechenden Merkmale vom Nord Stage liegen in der genialen Kombi von Piano, Orgel und Synth sowie dem direkten haptischen Zugang zu den Parametern beim Spielen. Doch bei der Musik, die ich zu entwickeln begann, war nun eher gefragt, Sounds weiterschalten zu können, während andere blieben. Außerdem geht es live mehr ums Spielen als um direktes Umprogrammieren. Und da kam der gerade erschienene Korg Kronos wie gerufen.

 

Was macht den Kronos so attraktiv für dich?

Erst einmal muss man sagen, dass Korg mit Kronos so gut wie alle Fliegen mit einer Klappe geschlagen hat, indem neun unabhängig laufende Syntheseformen unter einem Dach vereinigt worden sind. Im Prinzip wird da auch gleich das Nord Stage mit verschluckt, indem es im Kronos eine wahnsinnige Engine gibt, die sich ausschließlich auf den Flügelklang konzentriert und sogar den Nord Stage klanglich in den Schatten stellt. Dann eine Engine, die sich der Emulation von E-Pianos widmet, eine Orgel-Engine, eine Sample-Engine sowie fünf völlig unterschiedliche Synthesizer-Engines. Und alles kann in Form von Combinations miteinander verbunden werden. Dabei ist die klangliche Bandbreite so immens, dass man wirklich nichts mehr außer dem Kronos mit auf die Bühne nehmen muss. Was man von woanders brauchen könnte – z. B. ganz bestimmte Signatur-Sounds des Albums – kann man sich einfach als Sample in den Kronos ziehen. Und alles läuft und nichts stürzt ab.

Und eine weitere nicht zu unterschätzende Innovation ist die Umsetzung der „Smooth Sound Transition“, d. h., dass beim Umschalten von einem Sound zum nächsten überhaupt kein Bruch entsteht. Man kann beispielsweise den einen Sound mit der linken Hand halten, während man mit der rechten Hand schon den nächsten Sound spielt. Der Wahnsinn! Das kann das Leben des Keyboarders wirklich enorm erleichtern. Ich würde inzwischen so weit gehen zu sagen, dass die Musik von The Mightiest Ever ohne den Kronos mit nur einem Keyboarder gar nicht mehr umzusetzen wäre. (Nein, Tim ist kein Korg-Endorser!; Anm.d.Red.)

Die Kompositionen für TME zeichnen sich durch viel komplexere Strukturen und Prozesse aus, durch viel mehr musikalische Tiefe, als man auf den ersten „Blick“ wahrnimmt. Und doch strahlt die Musik auch eine gewisse Leichtigkeit aus …

Mich haben schon immer größere musikalische Strukturen und Bögen fasziniert. Und dabei ist es mir wichtig, dass die Techniken, die in der Komposition zum Tragen kommen, gar nicht so offensichtlich sind, sondern wie selbstverständlich genutzt werden, wie eine DNA-Struktur im Hintergrund ablaufen und ihren Effekt erzielen, und dass am Ende nur die musikalische Aussage, das Gefühl im Vordergrund steht. Für mich ist das im Jazz heutzutage oftmals das Problem: das Intellektuelle und Kopfige ist zu vordergründig und erreicht dann kein Publikum mehr. Da muss noch mehr sein als ein Konzept, denn das Publikum interessiert sich nicht für Konzepte, sondern möchte etwas spüren, bewegt werden.

Auf NOW geht die Idee vom großen Bogen sogar noch ein Stück weiter, da alle neun Stücke in einem Zusammenhang stehen und einer bewusst angelegten Dramaturgie folgen. Kompositionstechnisch gesehen tauchen immer wieder bestimmte Themen und rhythmische Muster auf, entwickeln sich weiter und finden sich in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder.

Das Klaviersolo von Forward & Beyond besticht durch seine Einfachheit und hat etwas sehr angenehm Meditatives.

Die Idee zu Forward & Beyond kam von unserem Geiger Valentin Gregor, der eines Tages mit diesem gitarrenartigen, aber auf der Geige gespielten Comping ankam. Das Minimal-Music-artige, repetitive und vorwärts schreitende Feeling zieht sich dann durchs gesamte Stück. Nachdem sich das Hauptthema zum Ende der ersten drei Minuten herausgeschält hat – da, wo sich dieser glockenartige Klang mit Flügelhorn und Synth-Flöte abwechselt –, beginnt der Soloteil für Klavier und dann Flügelhorn. Plötzlich setzt die ganze Band aus, und das Momentum wird einzig und allein durch eine Sequenzerspur fortgeführt, die ich mithilfe des Arpeggiators vom Juno programmiert habe. Es ist eine Dreierfigur, und man assoziiert E als Grundton.

War dieser Charakter des Solos geplant und ist er immer gleich, wenn ihr das Stück spielt? Wenn ja, hast du auch bei anderen Kompositionen Konzepte für den Charakter deiner Improvisationen, weil sie eine bestimmte Funktion im Rahmen der Gesamtkomposition einnehmen?

Das Solo ist vom Charakter schon in die Gesamtkonzeption eingebettet. Doch natürlich ist es in der Livesituation mal meditativer, mal energetischer. Ich baue das Solo auf, und unser Trompeter Christian Kappe übernimmt es auf dem Energielevel, auf dem ich es ihm übergebe.

In der Vergangenheit warst du sehr aktiv im weiten Feld der zeitgenössischen komponierten Musik. Wie bringst du diese Erfahrungen in die Arbeit für eine Band wie The Mightiest Ever ein?

Ich sehe The Mightiest Ever als eine Art Mini- Orchester. Meine Erfahrungen im Schreiben für klassisches Orchester lassen sich wunderbar übertragen. Durch die Keyboards und deren schier endlosen Möglichkeiten an Klangfarben denke ich wie ein Orchestrator im klassischen Sinne. Und bei der Gestaltung von großen musikalischen Bögen denke ich wie beim Schreiben einer Sinfonie oder einer Sonate.

Wie ist es zu dem überraschenden Bandnamen gekommen?

Der Name ist mir im Sommer 2009 über den Weg gelaufen: Da lief so eine Art Doku über einen Dinosaurier – den Tarbosaurus. Und der Untertitel lautete: „The Mightiest Ever“. Den Namen kann man durchaus auf unseren kraftvollen Sound beziehen, muss es aber nicht unbedingt. Ich übersetze den Namen als „das Mächtigste, das jemals …“. Wir meinen damit nicht, dass wir uns für die Tollsten oder Mächtigsten halten, sondern eher wünschen wir uns, mit dieser Kraft in Verbindung zu stehen.

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